- 210 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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t 6 (freundlich sanft, schwärmerisch) / t 7 (festlich, stolz) / t 11 (Aufbegehren, Wut) / t 12 (Melancholie, Wehmut) / t 21 (ziellos, resignierend)

Nach einem lyrischen Beginn, einer Erinnerung an bessere Zeiten, einem Aufbegehren gegen das Schicksal, einer resignierenden Wehmut, erklingt kein zusammenhängendes Stück mehr, sondern nur noch Bruchstücke. Auch wenn das Klavierspiel wahrscheinlich keine direkte Gefühlsäußerung von France ist, so zeichnet die Musik doch indirekt das Schicksal der Familie nach, deren Lage immer schwieriger wird, bis sie in eine Sackgasse gerät, an deren Ende die selbstmörderische Idee Horns steht, Lucien im Gestapo-Quartier zu besuchen. Vor allem in den Takes 12 und 21 trägt die Musik viel zur Atmosphäre bei, die gerade bei Take 21 eine Perspektivlosigkeit widerspiegelt. Malle hat die Stücke nicht zufällig ausgewählt. Dieses belegen die Kommentare im Drehbuch, die sogar die ›Mondscheinsonate‹ explizit erwähnen, und die direkte Verbindung der Musik mit der Handlung, die beispielsweise in den Takes 7 und 12 gegeben ist.559

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Die Wahl der Stücke kam Malle bei einem Gang durch Figeac: »Als ich eines Tages durch Figeac ging [. . . ], hörte ich aus einem der Häuser Klaviermusik; eine sehr melancholische Beethoven-Sonate, langsam gespielt. Abschnitte wurden wiederholt – offensichtlich übte gerade jemand. Ich lauschte und stellte mir diese im Versteck lebende jüdische Familie vor.«, zit. n. French (1998), S. 130

Vergleicht man die Entwicklung der Klaviermusik-Takes mit dem oben geschilderten atmosphärischen Verlauf der Swing-Takes, so lassen sich Parallelen feststellen. In beiden Fällen beginnt die Entwicklung mit einem freundlich-unbeschwertem Stück (Takes 6/2), hat dann einen dynamischen und motorischen Höhepunkt (Takes 12/15–17) und endet schließlich in einem Zersetzungsprozess (Takes 21/22). Aufgrund des stilistisch unterschiedlichen Charakters der beiden Gruppen und der sich ständig kreuzenden und abwechselnden Dramaturgien kann von einer Art dramaturgischer Dialektik gesprochen werden, welche am Schluss in eine Synthese, der bengalischen Flötenmelodie, mündet.560

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Die Aufnahme stammt von Jean-Claude Laureux, der diese in Indien bei den Dreharbeiten zu L’Inde fantôme gemacht hatte.
In entfernterem Sinne stehen die beiden musikalischen Dramaturgiestränge für die beiden Hauptpersonen des Films, Lucien und France. Freilich ist Lucien musikalisch nicht in dem Maße mit den Swing-Takes verbunden wie France mit der Klavierliteratur. Dennoch gehört er von Berufs wegen dem Milieu des Hôtel des Grottes und somit auch dessen Musik an, so dass das Erklingen der Flöte am Schluss des Films auch ein Indiz für eine (wenn auch nur kurz andauernde) Utopie des paradiesischen Zusammenlebens des »unmöglichen Paar[es]«561
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Vgl. Koch (1985), S. 96
jenseits aller politischen, moralischen und gesellschaftlichen Hindernisse ist. Lucien und France, deren Beziehung unter ›normalen‹ Umständen nie zu Stande gekommen wäre, finden in den letzten Segmenten in der Natur zueinander. Ihre Lebensverläufe gehen eine Synthese ein, die sich in der Musikbehandlung widerspiegelt. Die Flötenmelodie steht ebenso im Kontrast zum restlichen musikalischen Material wie die Handlung und die Atmosphäre des Epilogs sich vom Rest des Films abhebt.

Die Musik führt somit durch den Film, sie ist ein Indikator für Stimmungen und Atmosphären und begleitet die orts- und personenbezogenen Handlungsstränge (Hôtel des Grottes, Horns Wohnung) und die Entwicklung der Protagonisten.


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