- 215 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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früheren Filmen Inzest und Kollaboration, nun Kinderprostitution), wobei er durch zeitliche Distanz und die Erzählperspektive eine moralisierende Haltung vermeidet und die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt. In dem Bordell herrscht eine beschaulich familiäre Atmosphäre, und wenn der Filmbetrachter jene Form von Kinderprostitution als Perversion ansieht, so empfindet Violet dieses anders, da es für sie eine Ehre ist, in den Kreis der Prostituierten aufgenommen zu werden. Wert- und Moralvorstellungen werden erschüttert, was durchaus Malles Intention entspricht: »[. . . ] it’s going to force people to rethink a number of things that they take for granted. It’s about what is the definiton of sin [. . . ]«572
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Louis Malle in Yakir, Dan (1978a): »Louis Malle’s Pretty Baby«. In: Film Comment (5–6/78), S. 62
Wie schon in Zazie und Le Souffle au coeur ist die Erzählperspektive an den Protagonisten, ein Kind bzw. einen Jugendlichen, gebunden. Immer wieder entdeckt Violet etwas Neues im Universum der Erwachsenenwelt, sei es die Geburt ihres Bruders, der Klavierstimmer oder die Entwicklungsflüssigkeiten des Fotografen Bellocq.

Manche Elemente des Films basieren auf wahren Begebenheiten. Die Figur der Violet übernahm Malle aus einem Buch, welches die Situation im Rotlichtviertel Storyville dokumentiert.573

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Rose, Al: Storyville – New Orleans. Alabama 1974
Auch E. J. Bellocq ist eine real existierende Figur, ein wasserköpfiger Außenseiter, der, als Industriefotograf tätig, die Leidenschaft hatte, Prostituierte abzulichten.

Der Film mutet wie die Milieustudie eines Bordells des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts an. Von der Versteigerung Violets und ihrer Hochzeit einmal abgesehen, geschieht wenig Aufregendes. Gerade das erste Drittel des Films kann als Chronik des Alltags der Prostituierten bezeichnet werden.574

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Vgl. die Kritik des Films von Alain Garsault (»La Petite (Pretty baby)«) in Positif 208/209 (7–8/78), S. 115 f., die dem Film gerade diesen Aspekt vorwirft.
Dementsprechend verfährt auch die Kamera, die vorwiegend mit langen Einstellungen arbeitet und hektische Schnitte vermeidet. Die warme Beleuchtung, die Sven Nykvist verwendet, korrespondiert mit der nostalgischen Plüschatmosphäre des Films; Wolfgang Limmer spricht von »betörend schönen Bildern«.575
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Limmer, Wolfgang: »Zazie im Bordell«. In: Der Spiegel 35/78, S. 150
Malle inszeniert das Bordell folglich als angenehmen Ort, als »a rollicking, festive house, filled with the sounds of jazz piano, dancing and laughter«.576
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Chemasi (1977), S. 11
Auch dieses kann als Euphemismus und als Provokation aufgefasst werden. Dennoch, so Limmer, weiß man »aus der Schilderung Prousts, welchen gesellschaftlichen Rang jenseits von Kontakthoftristesse neuzeitlicher Stoßbetonburgen derartige Häuser damals genossen«.577
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Limmer (1978), S. 150

Mit Pretty Baby drehte Malle einen weiteren Film, der in einer anderen Epoche spielt. Ähnlich wie bei Le Voleur verwendete er große Sorgfalt beim Auswählen des Dekors. Den überschwänglichen Luxus des Hauses fasste Malle metaphorisch zur Wollust auf. (Im Französischen ähneln sich die Wörter luxe (dt. Luxus) und luxure (dt. Wollust, Unzucht).)578

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Vgl. Audé, Françoise/Jeancolas, Jean-Pierre: »Entretien avec Louis Malle sur Au revoir les enfants«. In: Positif 320 (10/87), S. 32–39, hier S. 36
Malle versuchte, die damalige Lebenssituation und den Stil der Zeit möglichst authentisch nachzubilden.579
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»When you make a film, especially a period film, you try to be as accurate as possible [. . . ]« (Louis Malle in Yakir (1978a), S. 65 f.)


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