früheren Filmen Inzest und Kollaboration, nun Kinderprostitution), wobei er
durch zeitliche Distanz und die Erzählperspektive eine moralisierende Haltung
vermeidet und die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt. In dem Bordell
herrscht eine beschaulich familiäre Atmosphäre, und wenn der Filmbetrachter jene
Form von Kinderprostitution als Perversion ansieht, so empfindet Violet dieses
anders, da es für sie eine Ehre ist, in den Kreis der Prostituierten aufgenommen
zu werden. Wert- und Moralvorstellungen werden erschüttert, was durchaus
Malles Intention entspricht: »[. . . ] it’s going to force people to rethink a number
of things that they take for granted. It’s about what is the definiton of sin
[. . . ]«572
Louis Malle in Yakir, Dan (1978a): »Louis Malle’s Pretty Baby«. In: Film Comment (5–6/78),
S. 62
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Wie schon in Zazie und Le Souffle au coeur ist die Erzählperspektive an den
Protagonisten, ein Kind bzw. einen Jugendlichen, gebunden. Immer wieder entdeckt
Violet etwas Neues im Universum der Erwachsenenwelt, sei es die Geburt ihres
Bruders, der Klavierstimmer oder die Entwicklungsflüssigkeiten des Fotografen
Bellocq.
Manche Elemente des Films basieren auf wahren Begebenheiten. Die Figur der Violet
übernahm Malle aus einem Buch, welches die Situation im Rotlichtviertel Storyville
dokumentiert.573
Rose, Al: Storyville – New Orleans. Alabama 1974
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Auch E. J. Bellocq ist eine real existierende Figur, ein wasserköpfiger Außenseiter, der,
als Industriefotograf tätig, die Leidenschaft hatte, Prostituierte abzulichten.
Der Film mutet wie die Milieustudie eines Bordells des frühen Zwanzigsten
Jahrhunderts an. Von der Versteigerung Violets und ihrer Hochzeit
einmal abgesehen, geschieht wenig Aufregendes. Gerade das erste Drittel
des Films kann als Chronik des Alltags der Prostituierten bezeichnet
werden.574
Vgl. die Kritik des Films von Alain Garsault (»La Petite (Pretty baby)«) in Positif 208/209
(7–8/78), S. 115 f., die dem Film gerade diesen Aspekt vorwirft.
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Dementsprechend verfährt auch die Kamera, die vorwiegend mit langen
Einstellungen arbeitet und hektische Schnitte vermeidet. Die warme
Beleuchtung, die Sven Nykvist verwendet, korrespondiert mit der nostalgischen
Plüschatmosphäre des Films; Wolfgang Limmer spricht von »betörend schönen
Bildern«.575
Limmer, Wolfgang: »Zazie im Bordell«. In: Der Spiegel 35/78, S. 150
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Malle inszeniert das Bordell folglich als angenehmen Ort, als »a
rollicking, festive house, filled with the sounds of jazz piano, dancing and
laughter«.576
Auch dieses kann als Euphemismus und als Provokation aufgefasst werden. Dennoch, so
Limmer, weiß man »aus der Schilderung Prousts, welchen gesellschaftlichen Rang
jenseits von Kontakthoftristesse neuzeitlicher Stoßbetonburgen derartige Häuser damals
genossen«.577
Mit Pretty Baby drehte Malle einen weiteren Film, der in einer anderen Epoche spielt.
Ähnlich wie bei Le Voleur verwendete er große Sorgfalt beim Auswählen des Dekors.
Den überschwänglichen Luxus des Hauses fasste Malle metaphorisch zur Wollust auf.
(Im Französischen ähneln sich die Wörter luxe (dt. Luxus) und luxure (dt. Wollust,
Unzucht).)578
Vgl. Audé, Françoise/Jeancolas, Jean-Pierre: »Entretien avec Louis Malle sur Au revoir les
enfants«. In: Positif 320 (10/87), S. 32–39, hier S. 36
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Malle versuchte, die damalige Lebenssituation und den Stil der Zeit möglichst authentisch
nachzubilden.579
»When you make a film, especially a period film, you try to be as accurate as possible [. . . ]«
(Louis Malle in Yakir (1978a), S. 65 f.)
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