- 225 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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in dieser Szene in erster Linie die schwungvoll-fröhliche Atmosphäre der Musik mit den Bildvorgängen korrespondiert, so hilft auch der Bedeutungshintergrund des Stücks (Tanzstück) zum Verständnis und zur besseren Einordnung der Szene: Die Prostituierten zeigen eine andere Seite als die, die sie jeden Abend vor ihren Kunden präsentieren – mit einer fröhlichen Naivität spielen sie ein harmloses Spiel, das dem Alter von Violet angemessen ist. Die professionellen Verführerinnen mutieren zu kleinen Kindern, auch wenn der eigentliche Beruf noch durchschimmert, wie das versuchte Entkleiden Bellocqs am Ende der Szene zeigt. Gerade dieser Kontrast zwischen sorglosem Kinderspiel und dem Dasein als Sexobjekt enthält eine gewisse Tragik, vor allem wenn man das Spiel als angenehmen Ausgleich zum alltäglichen, erniedrigenden Verkauf des Körpers ansieht.

Auch an einer anderen Stelle überspielt die Atmosphäre der Musik den eigentlichen Ernst und die immanente Tragik der Szene: Wenn Violet in Segment 50 versucht, den kleinen Nonny zu verführen und ihr Dilemma der verlorenen Kindheit zu Tage tritt. Nachdem Violet gelangweilt versucht, die Aufmerksamkeit Bellocqs zu erlangen, um auch einmal fotografiert zu werden, seitens der Erwachsenen jedoch nur Ablehnung erfährt, jagt sie Hühner im Hühnerstall – ein ihrem Alter angemessenes Vergnügen – und trifft dort auf ihre Altersgenossen. Sofort ändert sie ihren Gesichtsausdruck und benimmt sich wie eine Erwachsene. Dabei überrumpelt sie die hilflosen Jungen mit Sprüchen wie »I’m gonna love you up hot and long!« Sie gibt mit ihrer sexuellen Erfahrung an und provoziert den kleinen Nonny, indem sie ihn auffordert mit ihr zu schlafen. Dem wüsten Spiel, welches beinahe einer Vergewaltigung des Jungen gleichkommt, bereitet Nonnys Mutter ein Ende. Das Gerede über Sex und der Versuch, Nonny auszuziehen, sind für Violet und ›Red Top‹ nichts weiter als ein gelangweiltes Spiel; es wird hier deutlich, dass Violet keine echte Kindheit hat und gehabt hat, weil sie – ständig zwischen Erwachsenen und Kindern hin- und hergerissen – die Sprachformen, der sie sich bei ihren Kunden bedient, auch auf ihre Spielkameraden anwendet. Die Musik, erneut das Stück Pretty Baby, dieses Mal als Comboversion, verdeckt zunächst diese Tragik, da es mit der anfänglichen Komik der Szene korrespondiert. Die Stimmung ändert sich jedoch schlagartig, als Nonnys Mutter erscheint und die Musik ausgeblendet wird.

Die Musik scheint hier folglich durch ihren Charakter den eigentlichen Ernst der Filmthematik überspielen zu wollen, welcher jedoch beim Verstummen der Musik immer wieder hervorscheint. Dieses Prinzip findet sich auch in Take 33 wieder. Moonlight Bay erklingt, während zwischen Bellocq und Violet perfekte Harmonie zu herrschen scheint: Er hat ihr eine Puppe mitgebracht. Als die Musik aufhört, antwortet er auf ihre Frage, warum er ihr dieses Geschenk mache: »Every child should have a doll.« Daraufhin fragt sie ihn enttäuscht: »I’m a child to you?« An dieser Stelle wird der Konflikt der Kindfrau Violet erneut sichtbar, die einerseits noch mit Puppen spielt, andererseits als Partnerin von Bellocq akzeptiert werden will. Hier wird die Unmöglichkeit des Zusammenlebens des Paares bereits angekündigt.


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