Insgesamt werden ca. 1180 Sekunden = 19,7 min Musik im Film montiert, was einen Anteil von rund 23 % gemessen an der Gesamtlänge ausmacht. Hervorzuheben ist die Verteilung der Takes. Beschränkt man sich auf die Brahms-Ausschnitte, vergehen zwischen Take 2 und Take 6 mehr als 45 Minuten. Auch die Länge der einzelnen Takes variiert sehr stark, was jedoch zweifelsohne mit der Dramaturgie des Films zusammenhängt. Im romantischen zweiten Teil wird für die Liebesszenen mehr Musik benötigt als im handlungsintensiven ersten Abschnitt. Das Thema des Variationensatzes gibt die Grundstimmung des Films an. Es erklingt zum ersten Mal im Vorspann, in welchem La Carte du tendre gezeigt wird, eine geographische Darstellung aller Variationen zum Thema Liebe aus dem 17. Jahrhundert. Hierbei fallen besonders der Lac d’indifference und die Mer dangereuse (›See der Gleichgültigkeit‹ und ›gefährliches Meer‹) ins Auge. Zusammen mit dem von der Bratsche gespielten Thema in der, wie Wolfgang Ruf es formuliert, »seit Mozart als tragisch geltende[n] Tonart d-moll«,57
Take 2, bestehend aus Teilen der I. Variation, erklingt bei der Ankunft Jeannes in ihrem Haus ›Montauger‹ und charakterisiert gleichzeitig das Verhältnis zu Henri, ihrem Ehemann. Dieser ist bei ihrem Eintritt in das Haus bereits akustisch präsent, bevor der Filmbetrachter ihn sieht (die Tochter antwortet auf Jeannes Frage, wo denn der Vater sei, »Tu ne l’entends pas?«58
Die Musik wird hier ganz eindeutig der Sphäre des Hauses und des Ehemanns Henri zugeordnet. Sie entspricht durch ihren ernsten Gestus der drückenden Schwere, die auf dem Haus zu lasten scheint. Gleichzeitig zeichnet sie ein akustisches Porträt Henris, der in Kongruenz zu einer Musik, für deren Verständnis musikalische Bildung erforderlich ist, in Denkerpose auf dem Sofa dargestellt wird. Im Gegensatz dazu erscheint Jeanne, die mit neuer Frisur (was ihr Kammermädchen sogleich bemerkt) und Pariser Chic in diesem Umfeld wie ein Fremdkörper wirkt. Hier wird zum ersten Mal der Unterschied zwischen den Eheleuten deutlich. Jeanne dreht den Verstärker leiser und reißt damit Henri aus seinen Gedanken, woraufhin dieser ein Gespräch beginnt, in dem sich die Kommunikationsunfähigkeit des Paares manifestiert. Zwei Welten prallen aufeinander: Jeanne, die offenbar nicht viel mit der Brahms-Variation anfangen kann (sie wird in den Segmenten 17–19 mit der der Pariser Gesellschaft zugeordneten Musiksphäre charakterisiert), mit Gedanken noch in Paris, und Henri, der bei seinem ersten Auftreten als herrischer, ernster Mensch dargestellt wird und der die Unternehmungen seiner Frau im Pariser Amüsierbetrieb missbilligt und sich stattdessen der sogenannten ›ernsten‹ Musik wid-
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