- 262 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Am stärksten tritt die Interferenz der beiden Filmgattungen wohl in Lacombe Lucien hervor. Malle behandelt ein kontroverses Thema mit einer Mischung aus »tiefgründigem Verstehen einer Figur [Lucien Lacombe] und distanzierter Beobachtung ohne moralische Bewertung«683

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Marschall (1999), S. 444
– eine Neutralität, die ihm freilich von einem Großteil seiner Landsleute verübelt wurde, handelt es sich doch bei der Kollaboration mit den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs um einen Themenkomplex, der ein Stück unbewältigte Vergangenheit für die Franzosen bedeutet. Entscheidend für die musikalische Ästhetik des Films ist die Verwendung von Originalaufnahmen der dargestellten Epoche. Somit schafft Malle eine akustische Dokumentation der Zeit und der Gegend Südfrankreichs, die durch lokale Sprechweisen der Figuren charakterisiert wird und sehr authentisch wirkt, da alle Geräusche und Stimmen original vor Ort aufgenommen wurden. Die Entscheidung, die Handlung nicht zu kommentieren, rückt den Film nach Malles eigener Aussage in die Nähe der vorherigen cinéma direct-Produktionen Humain, trop humain und Place de la République : »[. . . ] un film [. . . ] que j’ai eu l’impression d’avoir tourné dans le même esprit que les deux précédents. Avec la même distance, le même refus de commentaire sur Lucien que sur le travail à la chaîne [. . . ]«684
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Malle in Braucourt (1974), S. 28 (»[. . . ] ein Film [. . . ], bei dem ich das Gefühl hatte, ihn im selben Geiste wie die zwei vorherigen gedreht zu haben. Mit der gleichen Distanz, der gleichen Ablehnung eines Kommentars über Lucien wie über die Fließbandarbeit [. . . ]«)

In dieser Phase seines Schaffens gelingt es Malle, sich seinen ästhetischen Forderungen nach einem den Filmbetrachter nicht vordergründig emotionalisierenden Einsatz von Musik anzunähern. Nahezu alle Takes sind im Bild verankert, an keiner Stelle wirkt die Musikdramaturgie überladen. Durch den Einsatz von zeitgenössischer Musik kaschiert Malle eventuelle dramaturgische Funktionen (die zweifellos ihren Platz haben) hinter dem Aspekt des Dokumentarischen, so dass sich die Präsenz von Musik allein durch die Handlung legitimiert. Dass die moralische Neutralität der Darstellung (wie in Le Souffle au coeur) mitunter wie eine Provokation wirkt, entspricht Malles Haltung gegenüber dem Filmbetrachter: »I’ve been more interested in – not in displeasing people, but in disturbing, provoking them. I want to force them to ask questions.«685

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Malle in: Kakutani, Michiko: »Louis Malle’s Fascination With Life’s Turning Points«. In: The New York Times 28. 6. 1981
Hier erkennt man seine Vorliebe für tabuisierte Themen wie Kinderprostitution, Inzest oder Kollaboration.

Auch in den folgenden Werken der zweiten Periode, Pretty Baby und Atlantic City, U.S.A., spielt das dokumentarische Element eine große Rolle, was beispielsweise an der Geräuschdramaturgie des letztgenannten Films deutlich wird. Gleichzeitig zeigt er, dass die Musik bei aller dokumentarischen Präzision über die Funktion des schlichten Indiz für Zeit und Personen hinausgeht, die Charaktere teilweise ironisch kommentiert und durch außermusikalische Inhalte die Aussage des Films anreichert.

In den darauffolgenden Filmen der dritten Periode Crackers (1983) und Alamo Bay (1985) scheint Malle von der dokumentarischen Linie abzuweichen. Die


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