- 126 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Eine andere Möglichkeit der Annäherung von Symphonie und Lied erwägt Mathias Hansen, indem er im vierten Satz eine ins Überdimensionale geweitete Variante des Revelge-Liedes sieht: »Ähnlichkeiten ergeben sich von der Grundstimmung eines permanenten Marschsatzes bis zu Motivik und Formbildung.«178
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Mathias Hansen, Gustav Mahler (= Reclams Musikführer), Stuttgart 1996, S. 135.
Übereinstimmungen in der Motivik wurden hier schon aufgezeigt, und die Marschcharakteristik beider Stücke scheint wohl außer Frage zu stehen. Bleiben die Ähnlichkeiten in der Formbildung. Zu nennen wäre hier die achte Strophe, die die erste wieder aufnimmt, so wie die langsame Einleitung in der Coda wieder aufgegriffen wird. Der Ausgang beider Werke in der Vernichtung bleibt bestehen. Die spiegelbildliche Anlage, die den Symphoniesatz prägt, läßt sich im Lied jedoch kaum festmachen, ebenso wie sich keine weiteren Zuordnungen von Abschnitten ergeben. Auch dieses Modell kommt über gewisse Übereinstimmungen in beiden Werken nicht hinaus. Auch hier gelingt es nicht, einen zwingenden Bezug zwischen Revelge und der Sechsten herzustellen. Der Versuch, die Nähe beider Werke in der Übereinstimmung der Form zu finden, stößt an gewisse Grenzen.

Es wird seinen Grund haben, wenn Adorno sein Postulat von den »tiefsten Beziehungen« zwischen beiden Werken nicht begründet hat, obwohl er noch nach dem Mahler-Buch in den Epilogema179

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Zuerst in Forum, September 1961, ergänzt in »Quasi una fantasia«, Frankfurt 1963.
(1963) intensiv auf die Sechste eingegangen ist. Allein in seinem dritten Mahler-Rundfunk-Vortrag (1960), der bis zur Aufnahme in die Gesammelten Schriften (1984) ungedruckt blieb, führt er noch zwei Bezüge an: Zum einen erkennt er in den Takten 158 bis 169 des ersten Satzes ein Modell »des Erzählenden, der Balladen, in denen Mahler den Untergang von Soldaten betrauert«. Zum anderen beziehe sich der zweite Durchführungsteil des vierten Satzes (Takt 385–394) wesentlich auf ein dem Choral verwandtes Motiv: »Die lang ausgesponnene Strophe steigert sich barbarisch. Ähnlich ist in dem Lied Rewelge das Wort ›Feind‹ dreimal wiederholt.«180
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Th. W. Adorno, Dritter Mahler-Vortrag, erstmals gedruckt in den Musikalischen Schriften Band V, S. 616 und 620.
Dieser Abschnitt wurde hier als »Schlachtenmusik« bezeichnet. Auch diese beiden Marginalien können einen zwingenden Zusammenhang zwischen beiden Werken nicht stiften.

Wenn also die »tiefsten Beziehungen« einstweilen verborgen bleiben dürften, so kann der Gedanke einer Annäherung beider Werke eine gewisse Berechtigung beanspruchen, die sich in einer gemeinsamen Grundidee erkennen läßt: Beide Werke weisen mit den überbordenden Marschpassagen und den Signalidiomen deutlich in die Sphäre des Militärs. Beide Werke kehren diese Idiome entschieden ins Negative, indem sie sie bis zur Entstellung verzerren und verdunkeln. Hierdurch, so läßt sich folgern, gewinnt das Militär ganz entgegen dem Zeitgeist den Charakter des Verhängnisvollen, Unseligen und Tragischen. Das Ende beider Werke im Untergang untermauert diesen Charakter nachdrücklich. Die Nähe zwischen Revelge und der Sechsten Symphonie dürfte mindestens ebenso wahrnehmbar sein wie die Bezüge des vierten Kindertotenliedes zur Neunten Symphonie181

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Hans Heinrich Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, München 1982, S. 248–253.
, obwohl ein Vergleich problematisch ist, da es sich im Falle der Neunten um die Übernahme einer melodischen Bewegung in wenigen Takten handelt, bei der Sechsten dagegen um die Übernahme und ähnliche Verarbeitung musikalischer Idiome.


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