V. Interpretationsgeschichtea. VorahnungenDie Vorstellung, daß der Künstler in seinem Werk künftige Ereignisse vorausahne, nimmt in der hier diskutierten Interpretationskonstante der Sechsten Symphonie eine entscheidende Rolle ein. Diese Vorstellung läßt sich weit in das Mahler-Schrifttum zurückverfolgen. Schon 19051
»Jedes Werk ist ein Stück Autobiographie des Künstlers, und in den meisten Fällen stellt es sogar die Antizipation des realen Erlebnisses dar. Man muß freilich Determinist sein, um sich zu dieser Meinung zu bekennen; aber wer nicht daran zweifelt, daß alles zu Erlebende mit Notwendigkeit eintreten muß, wird auch zugeben, daß der Künstler im Augenblick des Schaffens, der ihn über das reale Dasein hinaus auf die höchstmögliche Stufe seiner momentanen Existenz hebt, Erlebnisse intuitiv voraus gestaltet, die im Leben des Alltags, das jene extatischen Erhöhungen nicht kennt und langsamer fortschreitet, erst später eintreten können.«2
Diese Äußerung geschah zu einer Zeit, als all das, was man später als das Eintreten der Vorahnungen verstand – den Tod der Tochter, die Diagnose des Herzfehlers, den eigenen Tod – noch nicht geschehen war. Und der Gedanke wurde von Mahler jedenfalls nicht zurückgewiesen, denn Specht hat Mahler den Entwurf seiner Schrift zur Korrektur vorgelegt, zu der Mahler brieflich einige Anmerkungen machte, die aber jene auf die Antizipation bezogenen Ausführungen auf S. 26 nicht betreffen. Im Gegenteil: Mahler hebt hervor, wie tief Specht in sein Wesen eingedrungen sei, und daß sein Verständnis den Weg von den Werken zum Menschen genommen habe3
»Ich weiß für mich, daß ich, solange ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiß keine Musik hierüber machen würde. Mein Bedürfnis, mich musikalisch (symphonisch) auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten; also, sozusagen an der Pforte, die in die ›andere Welt‹ hineinführt, die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen...«4
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