- 15 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Kapitel ist der US-amerikanischen Rezeption gewidmet. Einleitende Ausführungen zur Theorie der Rezeptionsforschung, ein Fazit und Tabellen zur Aufführungsgeschichte runden die ambitionierte Arbeit ab.

Die beiden umfassenden Studien zur Mahler-Rezeption aus der unmittelbaren Gegenwart, die sich Mahlers symphonischem Gesamtschaffen widmen, und die Bemerkung in letzterer, der Bereich der Interpretationsgeschichte werde in der Untersuchung ausgeklammert, läßt die Erforschung der Interpretations- und Rezeptionsgeschichte einer bestimmten Symphonie als folgerichtig erscheinen.

Einen Schritt weiter in die in der vorliegenden Arbeit unternommene Richtung ist die amerikanische Dissertation von Karen Painter aus dem Jahre 199663

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Karen Painter, The Aesthetics of the Listener: New Conceptions of Musical Meaning, Timbre and Form in the Early Reception of Mahler’s Symphonies 5–7, Diss. Columbia University 1996; vgl. dazu die Besprechung von Reinhold Brinkmann in den Nachrichten zur Mahler-Forschung 36 (1997).
gegangen. Sie beschränkt sich auf die drei mittleren Symphonien Mahlers und untersucht ihre frühe Rezeption in Aufführungskritiken. Von den drei Teilen – Musical Meaning, Timbre, Form – ist allerdings der erste Teil am wenigsten elaboriert und verbleibt in allgemeinen Erörterungen. Die zahlreichen programmatischen Bemerkungen der frühen Rezensionen, die die Musik sprachlich zu umreißen versuchen, sind nicht umfassend analysiert worden. Gerade diese geben aber Gelegenheit, die musikalische Bedeutung der Musik, wie sie der Hörer wahrnahm, zu erschließen. Diese Wahrnehmung will die vorliegende Arbeit am Beispiel der Sechsten aufdecken.

Die grundsätzlichen Probleme der Musikwissenschaft mit dem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz hat Hans Robert Jauss in dem oben genannten Band formuliert:

»Sie gipfeln in der Crux, daß die Identität des Werks – und damit die Instanz für eine adäquate oder inadäquate Interpretation – verloren zu gehen drohe, wenn der musikalische Vorgang selbst – der Funktionszusammenhang zwischen Partitur, Aufführung und Rezeption – das eigentliche Faktum einer Musikgeschichte bilden soll. Meine Antwort könnte lauten: die Rezeptionstheoretiker sind heute nicht mehr so schlimm wie ihr Ruf. Sie steuern einen Kurs zwischen Dogmatismus und Subjektivismus. Sie reduzieren den Ereignischarakter eines Werks nicht länger auf seine geschichtliche Repräsentanz, d.h. auf die rekonstruierte erste Rezeption durch die Zeitgenossen. Sie bekämpfen das zählebige Argument, daß Beethovens »Eroica« so oft existiere, wie es Köpfe unter den Zuhörern gebe [...]. Sie vertreten die Auffassung, daß es zwar kein identisches Maß für adäquate, wohl aber Kriterien für inadäquate Interpretation gibt. Wenn die hermeneutische Maxime gilt, daß ein Werk als ästhetischer Gegenstand auch auf Fragen antworten kann, auf die der Text zu seiner Zeit noch nicht die Antwort war, schließt dieselbe Maxime zugleich Frageinteressen einer späteren Zeit als inadäquat aus, wenn der Text von sich aus darauf nicht antworten und keine stimmige Interpretation legitimieren kann. [...] Die Identität eines literarischen Textes oder eines musikalischen Werks – so ist daraus zu folgern – muß nicht notwendig in einem hypothetischen, vorgegebenen oder definitiven Sinn begründet sein. Er kann auch in der geschichtlichen und ästhetischen Entfaltung seines Sinnpotentials aufgewiesen werden. Daß dabei das Werk als Struktur von Form und Sinn die heuristische Funktion der letzten Instanz adäquater und


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