- 155 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Mahlers Musik erfährt, ist im Gegensatz zu Paul Bekkers Deutung eines individuellen Scheiterns hier wiederum ein dezidiert politisch-gesellschaftlicher, wie schon bei Specht. Die Gegenposition Adornos zu Bekker ist erwähnenswert, da Adorno in seiner frühen Frankfurter Tätigkeit als Musikjournalist von Paul Bekker geprägt worden ist136
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Rudolf Stephan, Art. »Adorno«, in: MGG2, Personenteil Bd. 1, Sp. 165.
und sein Mahler-Buch in gewisser Weise als eine Weiterentwicklung der Zugangsweise Bekkers gesehen werden kann. Ferner ist bemerkenswert, daß beide Titel dieser gleichzeitig erschienenen Aufsätze – Adorno: Mahler heute, Redlich: Mahlers Wirkung in Zeit und Raum – auf ein Mahler-Verständnis hinweisen, das sich mit der Zeit verändert hat. Bei beiden Autoren ist der Krieg für die Veränderung der Interpretation Mahlers verantwortlich. Sie stellen noch entschiedener als die Autoren am Anfang der Zwanziger Jahre die Idee heraus, daß Mahler die zukünftige Entwicklung, sei es nun der Krieg oder die Krise der bürgerlichen Welt, antizipiert habe. Diese Idee kann als wesentliches Moment der veränderten Interpretation um 1930 gegenüber dem Stadium am Anfang der Zwanziger Jahre angesehen werden. Bei der Suche nach Gründen für die Einflechtung dieser neuen Idee stößt man auf einen Fingerzeig Adornos: Er hat bezüglich der Kriegsvorahnung auf die Lyrik des Expressionismus hingewiesen.137
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Adorno, Mahler, S. 32.

Vor der näheren Hinwendung zu diesem Fingerzeig gilt die Aufmerksamkeit einem letzten wichtigen Segment der Interpretationsgeschichte der Sechsten bis zum Zweiten Weltkrieg. Diese Interpretation lieferte Alma Mahler in ihren Erinnerungen an Gustav Mahler, die sie erstmals 1940 im Amsterdamer Exil-Verlag Allert de Lange publizierte. Über die Entstehung der Sechsten berichtet sie vom Sommer 1904:

»Der Sommer war schön, konfliktlos, glücklich. Am Ende der Ferien spielte mir Mahler die nun vollendete Sechste Symphonie vor. [...]
Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Wald herunter gekommen und hatte gesagt: ›Ich habe versucht, Dich in einem Thema festzuhalten – ob es mir gelungen ist, weiss ich nicht. Du musst dirs schon gefallen lassen.‹
Es ist das grosse, schwungvolle Thema des I. Satzes der VI. Symphonie. Im dritten Satz schildert er das arhythmische Spielen der beiden kleinen Kinder, die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich – diese Kinderstimmen werden immer tragischer, und zum Schluss wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden. ›Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie ein Baum.‹ Dies Mahlers Worte.
Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein. Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben ›antizipando musiziert‹. Auch er bekam drei Schicksalsschläge, und der dritte fällte ihn.«138

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Alma Mahler, Erinnerungen, S. 97.


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