- 156 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Hier findet sich zum ersten Mal der Bezug zwischen der Sechsten und Mahlers individuellen Schicksalsschlägen. Diese Interpretation hat später verbreitet Einzug in das Mahler-Schrifttum gefunden und sich zu einem Widerpart der Weltuntergangs-Interpretation etabliert. Privates Unglück contra politische Katastrophen, so könnte man die Kontroverse in der Interpretation der Sechsten auf einen Nenner bringen. Die Zuverlässigkeit von Almas Überlieferungen wurde im III. Kapitel schon kritisch beleuchtet. Der Behauptung Almas, Mahler habe sie im zweiten Thema der Sechsten festgehalten, steht die Überlieferung Willem Mengelbergs entgegen, daß es sich im Adagietto der Fünften um eine Liebeserklärung Gustavs an Alma handele.139
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Mengelbergs Niederschrift in seiner Dirigierpartitur der Sechsten, abgebildet bei Hermann Danuser, Gustav Mahler und seine Zeit, Laaber 1991, S. 335.
Und als Widmungsträger taucht Alma nicht in der Sechsten, sondern in der Achten Symphonie auf. Nicht unerwähnt bleibe, daß gerade dieses Seitenthema der Sechsten im Mahler-Schrifttum immer wieder als musikalisch schwach bezeichnet wurde. Schon bei Guido Adler findet sich diese Bewertung, dann bei Paul Bekker und auch in Zeitungskritiken.140
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Adler, Mahler, S. 74; Bekker, Mahler, S. 215; Echo der Gegenwart, Aachen, 17.12.1926; Kölnische Zeitung 26.10.1926 (Dr. W. Jacobs).
Adorno spricht 1960 von der »viel bemängelten Banalität des zweiten Themas« und ähnlich äußert sich Otto Klemperer.141
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Adorno, Dritter Mahler-Vortrag (1960), in: Gesammelte Schriften Bd. 18, S. 614; Klemperer, Gespräche, hg. v. Peter Heyworth, Frankfurt 1973, S. 46.

d.  Kriegsahnung und Expressionismus

»Die Kunst einer Zeit ist nicht Verursacher des Geschehens (wie man das z. B. allzusehr von der revolutionären Lyrik annahm), sondern sie ist voranzeigendes Symptom, geistige Blüte aus demselben Humus wie das spätere reale Geschehen – sie ist selbst bereits Zeit-Ereignis. Zusammenbruch, Revolution, Neuaufrichtung ward nicht von der Dichtung dieser Generation verursacht; aber sie ahnte, wußte, forderte das Geschehen. Das Chaotische der Zeit, das Zerbrechen der alten Gemeinschaftsformen, Verzweiflung und Sehnsucht, gierig fanatisches Suchen nach neuen Möglichkeiten des Menschenlebens offenbart sich in der Dichtung dieser Generation mit gleichem Getöse und gleicher Wildheit wie in der Realität..., aber wohlgemerkt: nicht als Folge des Weltkrieges, sondern bereits vor seinem Beginn, und immer heftiger während seines Verlaufs.«142

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Vorwort von Kurt Pinthus zu der von ihm herausgegebenen Sammlung »Menschheitsdämmerung. ein Dokument des Expressionismus«. Revidierte Ausgabe, Hamburg 1959, S. 28f.

»Und da die Rettung nicht von aussen kommen kann – von dort ahnte man längst vor dem Weltkrieg Krieg und Vernichtung –, sondern nur aus den inneren Kräften des Menschen, so geschah die große Hinwendung zum Ethischen.«143
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Pinthus, Menschheitsdämmerung, S. 27.

»Und selbst der Krieg, der viele dieser Dichter zerschmetterte, wird nicht sachlich realistisch erzählt; – er ist stets als Vision da (und zwar lange vor seinem Beginn), schwelt als allgemeines Grauen, dehnt sich als unmenschlichstes Übel, das nur durch den Sieg der Idee vom brüderlichen Menschen aus der Welt zu schaffen ist.«144
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Pinthus, Menschheitsdämmerung, S. 30.


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