- 160 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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aber zweifellos zu den Topoi expressionistischer Lyrik hinzu.155
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Uwe Wandrey, Das Motiv des Krieges in der expressionistischen Lyrik, Hamburg 1972, S. 45.
Gleiches gilt für das Phänomen der Angst.156
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Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Psychopathologie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, Stuttgart 1977, S. 130–150.
Die Idee des Schwankens als Topos des Expressionismus vermerkte Adorno selbst an anderer Stelle im Zusammenhang mit Mahler.157
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Adorno, Wiener Rede, in: Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 328.
Die Gegenüberstellung offenbart, daß Adornos und Redlichs Interpretationen von 1930, die sie in den fünfziger und sechziger Jahren wieder aufgriffen und vertieften, deutlich von der Vorstellungswelt des Expressionismus geprägt ist. Der Niederschlag expressionistischer Sprache und Vorstellungswelt auf die Mahler-Interpretation, der hier bei Redlich und Adorno nachgewiesen wurde, läßt sich an weiteren Dokumenten aus den zwanziger Jahren erkennen. Man beachte etwa die Begriffe »düstere Beleuchtung«, »grausam« und »glüht« in der oben zitierten Interpretation der Wunderhorn-Lieder von Oskar Bie.

Der Expressionismus, auf den Mahler vorauswies und an dessen Schwelle er starb, kann somit als ein gewichtiger Faktor der hier in Rede stehenden Interpretationskonstante festgemacht werden. Allerdings muß betont werden, daß viele Voraussetzungen dieser Interpretation, vor allem der Gedanke der Vorahnung und die Weltuntergangsidiomatik, im Mahler-Schrifttum schon vor dem ersten Weltkrieg vorhanden waren. Diese wegbereitenden Momente sind von der expressionistischen Gedankenwelt bereichert worden und haben die Interpretationskonstante von der Vorahnung des Krieges bzw., wie Adorno es abgeschwächt ausdrückte, von der Krise der bürgerlichen Welt, entstehen lassen.

Im weiteren Sinne ist diese Interpretationskonstante vor dem Hintergrund der Politisierung der Kunst und insonderheit der Musik zu sehen, wie sie sich am Anfang des 19. Jahrhundert abzuzeichnen begann und sich in den Zwanziger Jahren ausgebreitet hat. Schon Anfang der Zwanziger Jahre haben Specht und Stefan Mahlers Musik mit dem Ersten Weltkrieg in Beziehung gesetzt. Auch Redlichs angesprochene Schrift »Mahler. Eine Erkenntnis« (1919) ist ein Beleg für diese Politisierung. Sie findet sich grundsätzlich vor allem in der Auseinandersetzung um die Neue Musik, die jetzt politisch mit Begriffen wie »Musikbolschewismus« und »Kulturbolschewismus« geführt wurde.158

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Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart-Weimar 1994.
Des weiteren läßt sich in der Neuen Musik der späten zwanziger Jahre eine Entwicklung finden, in der die Musik sich stärker politischen und gesellschaftlichen Fragen zuwendete als zuvor. Für diese Entwicklung stehen Anfangs vor allem »linke« Komponisten wie Kurt Weill und Hanns Eisler. Sie engagierten sich in ihren Werken – vielfach Vertonungen Brechtscher Texte – für den Sozialismus und Kommunismus und gegen den Imperialismus und Faschismus, auch gegen den Krieg. In den dreißiger und vierziger Jahren setzt sich diese Entwicklung fort, etwa bei Karl Amadeus Hartmann, Ernst Krenek, Bohuslav Martinu, Frank Martin, Dmitri Schostakowitsch und vielen anderen bis hin zu Schönbergs politischen Kompositionen. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren kommen Werke hinzu, die die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 musikalisch zu kommentieren und zu verarbeiten versuchen: Luigi Nonos Il canto sospeso, und Ricorda che cosa ti

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