- 17 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Krisen der Jahre nach 1900, in denen Mahlers Sechste Symphonie entstand, und die Aufrüstung und Militarisierung im wilhelminischen Deutschland und in der k.u.k. Monarchie konnten auf einen bevorstehenden größeren Krieg hindeuten. Demgegenüber ist es völlig hypothetisch anzunehmen, daß die Menschen jener Zeit die anderen Katastrophen des Jahrhunderts – den Zweiten Weltkrieg und die Judenvernichtung – voraussahen, obwohl man den wachsenden Antisemitismus jener Zeit nicht unterschätzen darf. Immerhin wurde die Geisteshaltung Hitlers in Wien ab 1907 geprägt. Was jedoch Mahler von der allgemeinen Weltpolitik wahrnahm, als Problem empfand oder als Bedrohung ansah, muß jenseits der ihn persönlich berührenden Ereignisse Spekulation bleiben. Eine derartige Darstellung ist nicht Aufgabe musikwissenschaftlicher Arbeit und führt hier zu keinen stichhaltigen Ergebnissen. Die politische Krisenlage der Zeit mit ihren permanenten Einzelkriegen und Kriegsbefürchtungen ist heute allgemein bekannt und kann in der historischen Literatur nachgelesen werden. Noch mehr sind Brückenschläge zu politischen Einzelereignissen unzulässig, so etwa eine Inbeziehungsetzung der ersten Amsterdamer Friedenskonferenz im Sommer 1899 mit der gleichzeitig komponierten Revelge.65
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So angedeutet im Schulbuch Spielpläne Musik 9/10, Stuttgart 1988, S. 106.
Ebenso gab es offenbar keinerlei Berührungen zwischen Mahler und der gleichzeitig in Wien lebenden Pazifistin und Bekämpferin des Antisemitismus Bertha von Suttner: In den gegenseitigen Lebenswegen kommt der Name des oder der anderen nicht vor – sie haben sich nicht gekannt und sich nicht füreinander interessiert.

Vor der Untersuchung des Produktes – der Werke – sollte Mahlers Verständnis vom Produzieren geklärt werden, wobei seine Ästhetik der Symphonik im Mittelpunkt steht. Während bei den Liedern der ausgewählte Text erheblich zur Präzisierung des Gehaltes des Kunstwerkes beiträgt, gibt es bei der Symphonie nichts außer der Musik, die sich einem eindeutigen Verstehen stärker widersetzt als die Sprache. Mahler hat im Falle der Sechsten gänzlich darauf verzichtet, dem Hörer die Bedeutung seiner Musik nahezubringen. Allein bei der vierten Aufführung des Werkes – derjenigen im Januar 1907 in Wien und gleichzeitig der letzten von ihm dirigierten – ließ er den Beinamen »Tragische« auf dem Programmzettel zu. Doch was hier tragisch ist, dazu schwieg sich Mahler aus. Hier sind die Gründe zu referieren, warum Mahler, anders als bei früheren Symphonien, auf eine verbale Erläuterung der Musik verzichtete. Diese Frage richtet sich an sein Musikverständnis und an seine Ästhetik. Sie fragt nach der Aufgabe, Ausrichtung und Funktion seiner Musik. Zur Sprache kommt hier vor allem die Beziehung seiner Musik zur Welt und zur Gesellschaft um ihn herum und seine Position in der ästhetischen Auseinandersetzung um Programmusik und absolute Musik.

Ausgehend von jener Interpretationskonstante einerseits und von der vorhergenannten Instanz für die adäquate Interpretation andererseits richtet sich der zweite Blick auf das Kunstwerk selbst: Zu nennen sind die musikalischen Merkmale, die Anlaß geben, von einem Kriegsbezug in der Symphonie und in den Liedern zu sprechen. Bei den Liedern, exemplarisch bei Revelge, Der Schildwache Nachtlied und Zu Straßburg auf der Schanz’ wird die spezifische Vertonungsart besonders deutlich, wenn man die Vertonung Mahlers mit den bestehenden Volksliedmelodien und mit Parallelvertonungen vergleicht. Bei der Symphonie sind die kompositorischen Verfahrensweisen und Entscheidungen aufzuzeigen, die Bezüge zur Sphäre


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