- 2 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Redlich meint hier zwar nicht ausschließlich die Sechste Symphonie, aber, wie sich aus der musikalischen Beweisführung schließen läßt – Marschrhythmen und militärische Klangsymbolik –, diese doch erheblich stärker als etwa die Zweite, Vierte, Achte oder Neunte. Vor ihm brachte Erwin Ratz, der erste Präsident der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, schon 19554
4
Redlichs 1955 erschienenes Buch »Bruckner and Mahler« enthält eine derartige Deutung nicht.
einen vergleichbaren Gedanken zum Ausdruck, indem er postulierte, in der VI. Symphonie trete »uns bereits wie in einer Vorahnung die ganze Schwere der großen Katastrophen entgegen, die die Menschheit seit dem Jahre 1914 nicht mehr zur Ruhe kommen lassen sollten«5
5
Erwin Ratz, Gustav Mahler, in: NZfM 116 (1955), S. 129.
. Ähnlich heißt es 1957 in Ratz’ Mahler-Artikel der Enzyklopädie Die großen Deutschen:

»Ein Merkmal des großen Künstlers ist die Fähigkeit, Dinge vorauszuahnen, die erst in kommenden Zeiten ins Bewußtsein der übrigen Menschheit treten. So nimmt die im Jahre 1904 vollendete VI. Symphonie, die auch als die ›tragische‹ bezeichnet wird, bereits die schweren Katastrophen gleichsam vorweg, die seit dem Jahre 1914 über die Menschheit hereingebrochen sind.«6

6
Erwin Ratz, Gustav Mahler, in: Die großen Deutschen, Bd. IV, Berlin 1957, S. 274; ebenso in: Erwin Ratz, Gustav Mahler (1960), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, hg. v. F. C. Heller, Wien 1975, S. 121.

Den gleichen Wortlaut trägt eine Passage des Mahler-Artikels, den Ratz für die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart verfaßt hatte.7

7
Auch in einem Programmheft-Beitrag zum 1. Philharmonischen Abonnementskonzert in Wien am 22.9.1957 bringt Ratz die Sechste Symphonie in Verbindung mit den »Katastrophen, die wir erlebt haben und die uns noch bevorstehen mögen« (Erwin Ratz, Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 in a-Moll (1957), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Hg. v. F. C. Heller, Wien 1975, S. 123).
Nachdem der Artikel schon gesetzt worden war, wurde Ratz als Autor durch Hans Ferdinand Redlich ersetzt.8
8
Johannes Kretz, Erwin Ratz: Leben und Wirken, Frankfurt 1996 (= Musikleben Bd. 4; Studien zur Wiener Schule Bd. 1), S. 66. Der Artikel von Ratz erschien 1960 als Sonderdruck der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Wien.
Um den Artikel führten Ratz und der Herausgeber Friedrich Blume eine Auseinandersetzung, die sich in einem umfangreichen Briefwechsel niederschlug. Dabei ging es zunächst um den Umfang des Artikels, später um die inhaltliche Einschätzung Mahlers. Auch Adorno mischte sich in einem Brief an den Verlagsleiter Vötterle ein. Ratz hatte schließlich eine Zurückziehung des Artikels erwogen, auf die der Verlag einging. Am gleichen Tag (27.6.1959), an dem Ratz das Manuskript zurückgeschickt wurde, erging die Anfrage an Redlich in London, den Mahler-Artikel »unter Hinzuziehung ruhig auch des Ratzschen Textes« zu verfassen.9
9
Roman Brotbeck, Verdrängung und Abwehr. Die verpaßte Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie »Die Musik in Geschichte und Gegenwart«, in: Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin, hg. v. Anselm Gerhard. Stuttgart – Weimar 2000, S. 347–385, bes. S. 365–378.
Die hier zur Diskussion stehende Interpretation wurde von Redlich übernommen.


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