- 257 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (256)Nächste Seite (258) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

VII.  Schluß

Die durchgeführte Untersuchung hat mit der Zielsetzung, die Relevanz der vorgestellten Interpretationskonstante einzuschätzen und ihre Bedeutung für das Verstehen der Werke zu ermitteln, verschiedene Schichten offengelegt: Zunächst den Produzenten im politischen Umfeld seiner Biographie, dann seine Haltung zum Produzieren – seine Ästhetik –, danach das Produkt in seinen Möglichkeiten der Bedeutung, und schließlich seine Wirkung in zwei Ebenen. Die eine Ebene betraf die – hermeneutische – Interpretation, die sich – zumindest zu einem erheblichen Teil – auf das Werk als Partitur bezieht; die andere Ebene betraf die Rezeption des kompetenten Hörers, der seine Höreindrücke als Zeitungskritik niedergelegt hat.

Der Produzent Mahler hat politische Bedrohungen und Auseinandersetzungen in vielen Lebenssituationen erlebt, wie das II. Kapitel – eine Art politischer Biographie Mahlers – darlegt. In dem Ausmaß dieser Erlebnisse unterscheidet er sich kategorisch von seinen Vorgängern Brahms und Bruckner ebenso wie von seinen Zeitgenossen Strauss, Reger und Pfitzner. Ein dezidiert politisches Interesse oder Engagement ist bei Mahler aber kaum zu finden, so daß eine vom Produzenten ausgehende politische Botschaft als inneres Programm der Sechsten oder der Soldatenlieder kaum angenommen werden kann. Seine Ästhetik wäre einer solchen Botschaft jedoch offen gewesen, zum einen, weil er in seinen Werken innere Programme verankere, die mit seinem Leben und seinen Erfahrungen aufs engste verbunden sind, zum anderen, weil er diese Programme selbst nicht bis ins letzte entschlüsseln könne (Kapitel III). Seine Produkte – die Sechste Symphonie und die Soldatenlieder – lassen sich unter gewissen Voraussetzungen, müssen aber nicht zwingend als politische Botschaft aufgefaßt werden (Kapitel IV).

Es war Mahlers Wunsch zu erfahren, was sein Werk im anderen zum Tönen bringt1

1
Mahler, Briefe, S. 145, vgl. Kap. I.
. Der hohe Bedeutung, die Mahler der Rezeption seiner Werke zumaß, wird in der Darstellung der Wirkungsgeschichte entsprochen. Es treten grundsätzlich zwei unterschiedliche Interpretationsweisen zutage (Kapitel V):

Die eine sieht den Untergang vorahnend weltgeschichtlich, zunächst – vielleicht nahe dem Fin-de-siècle-Geist – als Untergang einer Welt. Aber die Sprache, die Specht 1906, verstärkt 1913 für die Darstellung des Untergangs findet, ist zu radikal und drastisch, als daß sie nur als Niederschlag einer nebulösen und sentimentalen Fin-de-siècle-Stimmung festgemacht werden kann. Komponenten der Idee – Vorahnung, Vernichtung einer Welt – gehen bis in Mahlers Lebzeiten zurück. In der Sechsten Symphonie wurde also schon vor 1914 der Untergang einer Welt wahrgenommen. Nach 1918 wurde diese Interpretation auf die Erfahrungen des Weltkrieges bezogen und schrittweise als Untergang der Welt im Ersten Weltkrieg erfaßt. Die Interpretationsgeschichte der Sechsten zwischen 1906 und 1930 läßt sich auf folgenden Nenner bringen: Von der Vorahnung in Mahlers Musik schlechthin und dem Untergang in der Sechsten zur Vorahnung des Ersten Weltkrieges. Die Weltuntergangs-


Erste Seite (i) Vorherige Seite (256)Nächste Seite (258) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 257 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang