- 258 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (257)Nächste Seite (259) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Interpretation wird neben Specht zunächst von Paul Stefan, daran anschließend um 1930 von Hans Ferdinand Redlich und Theodor W. Adorno geprägt. In dieser Sichtweise lassen sich Elemente expressionistischer Lyrik ausmachen, im weiteren Sinne bildet sie sich auf dem Hintergrund einer Politisierung der Musik in jener Zeit. Die Idee, Mahlers Sechste Symphonie ahne einen politisch-militärischen Untergang voraus, ist das Produkt jener kleinen Gruppe, die in Mahlers Nähe stand und sich intensiv mit ihm auseinandergesetzt hat. Diese Interpreten haben mit ihm etwas gemein: die Nähe zum Judentum und zum Teil auch zum Sozialismus. Das muß zunächst nichts mehr als ein Grund dafür sein, sich mit Mahler, zu dem man hierin eine Nähe empfand, zu beschäftigen. Auch Paul Bekker, der dieser Interpretation nicht gefolgt ist, war Jude und Sozialist. Die Förderung Mahlers von Seiten der Musik-Publizistik ist insgesamt vor allem aus der linken jüdischen Sphäre gekommen. Die kritische Haltung zum Krieg findet sich am ehesten im jenem linken Spektrum der Politik, sowohl zu Mahlers Zeiten (vgl. Kapitel II) als auch nach dem Ersten Weltkrieg. Die Interpretationskonstante geht in gewissen Merkmalen bis auf Mahlers Lebzeiten zurück und läßt sich mindestens bis in die siebziger Jahre verfolgen. Durch weltgeschichtliche Ereignisse sind zu den Ursprüngen weitere Komponenten hinzugekommen, so daß die Grundidee weiter gewachsen ist. Es ist nicht primär Mahlers Musik, sondern ihre Interpretation, die im Zusammenhang mit der Entstehung einer politischen Musik in den späten Zwanziger Jahren, die vielfach als engagierte Musik bezeichnet wird, gesehen werden kann. Mahlers Sechste läßt diese Interpretation entschieden zu, wie das IV. Kapitel gezeigt hat. Hier unterscheidet sie sich von seinen anderen Symphonien und von der Musik seiner Zeitgenossen Strauss, Reger und Pfitzner. Man kann darin ein zukunftsweisendes Moment entdecken. Mahlers Sechste drängt die Interpretation aber nicht auf oder erzwingt sie, wie gewisse Werke von Eisler, Hartmann, Nono oder Henze. Damit leistet sie Widerstand gegen eine zu einseitige Vereinnahmung.

Die andere Interpretationsweise von Mahlers Sechster sieht den Untergang philosophisch als Scheitern des einzelnen Menschen im Kampf gegen bedrohende Mächte, was eine pessimistisch-düstere Lebenshaltung beinhaltet. Paul Bekker hat als erster 1921 diese Interpretation vertreten und sich damit ganz bewußt und entschieden von der Weltuntergangs-Interpretation vor allem Spechts abgesetzt. Man kann in dieser Interpretation ein konservatives Moment sehen, denn diese Geisteshaltung findet sich in weiten Teilen des 19. Jahrhunderts, spätestens bei Schopenhauer. Der Untergang des Menschen im Kampf gegen widerstreitende Mächte steht im Zentrum der klassischen Tragödie. Die Rezeption der Zeitungskritiker nach dem Ersten Weltkrieg hat sich deutlich stärker der zweiten, individualistischen Untergangs-Sicht angeschlossen. Die Rezeptionsgeschichte der Sechsten, wie sie sich in Zeitungskritiken zeigt (Kapitel VI), bestätigt die Weltuntergangs-Interpretation und somit die Interpretationskonstante also nicht. In der breiteren Öffentlichkeit ist diese Idee bis 1933 nur wenig zu entdecken. Weder vor noch nach dem Ersten Weltkrieg wird in verbreitetem Maße von Krieg gesprochen, die Idee der Vorahnung läßt sich überhaupt nicht finden. Dennoch zeigen sich deutliche Veränderungen von der Zeit vor 1914 zur Zeit nach 1918, so daß man rezeptionsgeschichtlich von einem Paradigmenwechsel sprechen kann: In der Musik wurde nach 1918 Pessimismus und Niederlage im Kampf, Düsteres und Grauenvolles in erheblich stärkerem Maße


Erste Seite (i) Vorherige Seite (257)Nächste Seite (259) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 258 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang