- 271 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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und Ländler liegt seine Welt. Aber welch’ ein Marsch, welch’ ein Ländler! Welche Brutalität, welche Melancholie, welche unausstehliche, feuchte Frömmigkeit! Welche knieweiche Ekstase! [. . . ] Herr Mahler ist Mystiker. Liebt Glocken aller Art, liebt die Celesta, liebt die plötzlichen Choräle. Ist unablässig auf einer Wallfahrt, hat in einem fort was zu sühnen und gutzumachen. Er componirt die Erbsünde. Die reinen Thoren haben immer den größten Lärm gemacht. [W07/E]
Man mag es noch so überlegen zu analysieren versuchen, ein Rest am Rätsel bleibt, wenn der witzige Kritiker auch ehrlich ist. Es gibt einen Maler in Wien, dem Mahler mit seinem kontrapunktischen und instrumentalen Liniengewirr, mit seinen Herausforderungen an den Philister zu vergleichen wäre: Klimt. Aber Klimt hat nicht das Pathos, nicht die treibende Energie, nicht das schmerzhaft die Nerven aufwühlende. [W07/F]

Und so könnte man, abermals zu klassischen Erinnerungen verlockt, diese tragische Symphonie auch die »Symphonie mit dem Hammerschlag« nennen. . . [. . . ] Katastrophen können sich gewiß nicht in den Flöten abspielen; aber so beharrliche Mitwirkung des Blechkorps an Schmerz und Verzweiflung wirkt selbst katastrophal. [. . . ] Namentlich der Zusammensetzung von Celesta [. . . ] und Herdenglocken, die nie programmatisch, sondern nur als Klangnuance in Betracht kommen, gewinnt Mahler oft berückende Wirkungen ab. Er führt uns da wirklich auf Bergeshöhen und in himmlische Gefilde. Daneben gähnen freilich Abgründe und Höllenschlünde. [. . . ] Und da steht nun der merkwürdige kleine, schmächtige Mann [. . . ] und bewirft uns bald mit Blumen, bald mit Feuerbränden und Felsblöcken. Man muß sich ihn nach alter Vorstellung von Dämonen besessen denken beim Schaffen [. . . ] diese nervenerregende Symphonie [. . . ] Im ganzen kann man sagen, daß die neue Symphonie in der Geschlossenheit des symphonischen Aufbaues die vorangegangenen übertrifft, aber leider auch deren Realismen, die nervenaufwühlenden Spannungen steigert. [W07/H]

Pastoral- oder tragische Symphonie [. . . ] Als »tragische« hat sich Mahlers sechste Symphonie in zwölfter Stunde öffentlich deklariert, obwohl sie von Hause aus weniger auf ein Trauerspiel denn auf ein Idyll angelegt scheint. Idyllisch ist die Weltflucht des Helden in die Einsamkeit des Gebirges [. . . ] Man entkleide das Werk seines instrumentalen Gewandes, nehme ihm den blutigen Purpur seiner gebauschten Draperie, lasse es im bürgerlichen Kleide des Klavierauszuges einherspazieren und überzeuge sich, daß es zwar einige interessante Kapitel aus der Lebensgeschichte eines zwischen verschiedenen Empfindungen hin und her geworfenen Menschen erzählt, nimmermehr aber das Furcht und Mitleid erregende Schicksal eines Heros verkündet, der für einen Repräsentanten der kämpfenden, leidenden und überwindenden Menschen gelten kann. Dazu ist der Charakter der Symphonie ein viel zu persönlicher, intimer exklusiver, seltsamer. Auch fehlt allen Sätzen, mit einziger Ausnahme des Andantes, das sichere Fundament eines festgegründeten Bodens. Ihre Melodien extravagieren alle ins Grenzenlose, Supranaturalistische – trotz der robusten Instrumentation – und auch der Baß berührt kaum vorübergehend einmal mit der Ferse die Erde, um sich sofort wieder im Aufschwunge von ihr abzustoßen. Die Schlachten, welche hier geschlagen werden, sind Geisteskämpfe auf den katalaunischen Feldern der Phantasie, und die Gestalten, die wie im Nebel vor uns auftauchen, reihen sich zu Schattenbildern aneinander, ohne über ihre reale Herkunft befragt werden zu wollen. [. . . ] Besteht Mahler auf der Tragik seiner Symphonie, die, [. . . ] doch ohne das verhaßte Programm nicht auskommt – gut, so muß er sich gefallen lassen, daß irgend ein belesener Interpret den rasenden Ajax zu ihrem Helden proklamiere. Ergrimmt über Agamemnon und die Fürsten der Hellenen, die ihm die Waffenrüstung des vor Troja gefallenen Peliden aberkannten, verfiel er in Wut und wähnte in der Hammelherde und deren Hütern den Hirten der Völker samt dessen Vasallen zu erwürgen, bis er, seinen beschämenden Irrtum einsehend, sich in sein Schwert stürzte. Die Herdenglocken und der Hammerschlag als Symbol des Selbstmordes beständen dann zu Recht, und unter den Chorälen, die in den Außensätzen der Symphonie ertönen, hätte man an den Rat der Götter Griechenlands zu denken, während die Celesta, das Stimmgabelklavier, nebst geheimnisvollem Zubehör ihren Namen dadurch zu Ehren brächte, daß sie dem andächtigen Zuhörer den beseligenden Blick in die Herrlichkeit des Olymps eröffnet. Was sagt der Komponist zu dieser Rettung? Wir werden uns hüten, diesen verwegenen Rettungsversuch der symphonischen Apokalypse zu dem unsrigen zu machen. Denn Mahler würde uns ohne Zweifel der verwunschenen Gesellschaft altväterischer Philister einreihen, die er im Trio seines geistsprühenden Scherzos so schauerlich verhöhnt, und wir wären verdammt, mit ihnen im Siebenachteltakt Menuett zu tanzen – eine vertteufelte Höllenstrafe! [W07/J]

mußte sich doch sagen, daß dort, wo das Blendwerk der Instrumentation und der Bizarrereien nicht ausreicht, herzlich Unbedeutendes zurückbleibt. [W07/K]


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