- 289 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Die VI. (A moll) soll ja auch, gleich den früheren Sinfonien, nicht als »Programm«-Musik aufgefasst werden. [E06/V]

daß Gustav Mahler auf den einen Stil, nämlich den der symphonischen Dichtung, gänzlich verzichtet und sich nur an den der alten symphonischen Form hält. Er schlägt damit den Weg ein, den zuletzt Johannes Brahms gewandelt ist. [. . . ] Bei Mahler verhält es sich jedoch nicht ganz so. Diese Aufstellung von vier Sätzen, dieses Fernhalten jeder »programmatischen« Andeutung – alles dies ist doch nur äußerlich, nur eine Behauptung ohne Beweise. Was nützt dieses gewaltsame Sträuben gegen das Symphonisch-dichterische, wenn es in jedem Takte, in jedem Klange, allüberall sich hervordrängt? wenn es nur zu deutlich hervortritt, daß der Komponist sich hat losreißen wollen, es aber nicht gekonnt hat? Bei allem eifrigen Bemühen läuft das ganze doch auf vier symphonische Bilder hinaus, und nicht auf die vier Sätze einer Symphonie. [. . . ] daß dieses plötzliche Abbrechen, dessen sich der Komponist zu häufig bedient, diese verschiedenen Klangwirkungen des Xylophons, der Celesta, der Herdenglocken und anderer schönen Instrumente doch auf einen phantastischen Vorwurf hinausläuft, den der Zuhörer unmöglich erraten kann. Da er dies aber gern möchte und stets dazu getrieben wird, es zu tun, so gerät er in eine Unruhe, die der Aufnahme nur schädlich werden kann. [E06/X]

Aeußerlich nun gibt sich das Werk als »absolute« Musik [. . . ] Aber in Wahrheit schreibt Mahler keine absolute Musik; es sind nicht jene tiefinnerlichen Klänge, die keiner Deutung von außen mehr bedürften, wie etwa das Andante aus der fünften Symphonie von Beethoven, die so ganz für sich selber sprächen. Wenn z.B. im andante moderato zu zarten Harmonien die Herdenglocken leise erklingen, so fühlt man sich bei Mahler dadurch eben noch nicht ohne weiteres entzückt und in höhere, reine Sphären gehoben, sondern man fragt: was soll das, was bedeutet das? Und ich habe absichtlich das Andante gewählt, weil Mahler hier seinem vorgeblichen Ziele, durch die Musik allein zu wirken, noch am nächsten kommt. Nun könnte man sagen: mache sich jeder sein »Programm« selber. Aber Mahlers Musik hat anderseits [sic] auch nicht jene bildnerische Kraft, die uns das hier durchaus notwendig dünkende poetische Gemälde vor die Seele zauberte. Ich stehe heute – nachdem ich eine Mahlersche Symphonie zum ersten Male gehört habe – auf dem Standpunkt, daß Mahler da, wo er das Wort zu Hilfe nähme, große Wirkungen erzielen könnte, oder daß er in der reinen Instrumentalmusik seine Wirkungen durch, wenn auch nur kurze programmatische Erklärungen steigern würde. Wie hilfreich und phantasiefördernd stellt hier das eine Wort »Altväterisch« im reizvollen fortwährend den Takt wechselnden Menuett des Scherzos zur rechten Zeit sich ein! [E06/Z]

Dass Mahler in seinem neuen Werke keine Programm-Musik gegeben, ist von E. O. Nodnagel in voriger No. dieser Blätter schon ausgeführt worden und geht auch daraus hervor, dass der Komponist vor der Aufführung die Stellung der beiden Mittelsätze vertauscht. Das schliesst nicht aus, dass den einzelnen Sätzen bestimmte poetische Stimmungen zugrunde liegen. [E06/a]

Dieselben Adepten von M.s Muse, welche behaupten, seine Sinfonien seien keine Programmusik, seien darauf hingewiesen, daß die Anwendung aller äußerlichen, notgedrungen ablenkenden Mittel sicherlich nicht dazu beitragen wird, ihrem Lager vorurteilslose Freunde zuzuführen. Bis zu einem gewissen Grade haben sie sicherlich recht, doch würde es hier zu weit führen, die Grenzlinien genau zu ziehen. [E06/c]

Ganz prinzipiell erscheinen mir solche Andeutungen einer nicht klar erschlossenen Vorstellungswelt [Stahlklavier und Herdenglocken] im absoluten Tonwerk, das sich nicht zu einem Programm bekennt, gefährlich. Oder war es Mahler nur am äußeren Klangreiz, am Spiel mit Kontrasten gelegen? [B06/C]

Auch in dieser 6. Symphonie will er keine Programmusik bieten, und doch verlangt gleich der erste heroisch-pathetische Satz minder gebieterisch nach einem Programm. [B06/E]

Man darf als sicher annehmen, daß G. Mahler bei dieser Symphonie ein bestimmtes Programm im Sinne hatte. Warum sagt er es uns nicht? Würde er z. B. über den ersten Satz nur geschrieben haben – er liebt doch die Volkslieder – »Der Ritter muß zum blut’gen Kampf hinaus«, so konnte man ihn ruhig genießen und »quält sich dann nicht mit unnützen Fragen.« Dann verstand man den kriegerischen Marsch als Ruf, die weichen Stellen als Abschied von der Familie, die mystischen Klänge als Einkehr in Wallhall, den Choral als Klage der Zurückgebliebenen. Natürlich kann ja ein ganz anderer Vorgang gemeint sein. Doch wozu sollen wir raten? Auch bei Angabe eines Programms böte die Musik noch genug Rätsel. [B06/F]


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