- 345 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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gelandet, nachdem sie mittlerweile in einigen reichsdeutschen Musikstationen an den Klippen des Unverstandes, des Mißverstandes und der Engherzigkeit gestrandet sein soll, wenn man den Meldungen vom Leuchtturm der Berliner Kritik Glauben schenken darf. [W07/D]
Mahler’s sechste Symphonie (A-moll) wurde in einem sogenannten ausserordentlichen Novitätenkonzert des »Konzertvereins«, dessen Programm sie allein ausfüllte, unter des Komponisten persönlicher Leitung am 4. Januar zum ersten Mal in Wien aufgeführt [. . . ] Welches Interesse das Werk schon von vornherein ausübte, bewies der völlig ausverkaufte Saal und zwar nicht bloss bei der Aufführung selbst, sondern auch bei der dem Publikum gleichfalls gegen Zahlung zugänglich gemachten Generalprobe. [. . . ] Für Wien und vielleicht überhaupt für die musikalische Welt neu war die auf den hiesigen Programmzetteln zu lesende Bezeichnung der sechsten Symphonie Mahler’s als »Tragische«. Davon steht nämlich weder in der Orchester-Partitur, noch in dem von A. Zemlinsky sehr geschickt bearbeiteten 4 händigen Klavierauszug (welche ich beide vor der jetzigen Aufführung gründlich studierte) ein Wort. Allerdings sucht einer der enthusiastischesten Wiener Verehrer und Parteigänger des Komponisten, Hr. Richard Specht, in einer durchaus apologetisch gehaltenen Erläuterungsschrift zu Mahler’s »Sechster« (diese, wie Partitur und Klavierauszug bei Kahnt’s Nachfolger in Leipzig erschienen) den tragischen Charakter des Werkes nachzuweisen. Auch hat Mahler dieser Auffassung jedenfalls zugestimmt, sonst würde er ja nicht gestattet haben, das etwas anspruchsvolle Prädikat auf den Konzertzetteln beidrucken zu lassen. [W07/G]

In einem außerordentlichen Novitätenkonzert des Konzertvereines ist heute Mahlers Sechste Symphonie zur Aufführung gelangt. Wieder ein ganz ungewöhnliches Werk, das bereits auf seiner bisherigen Laufbahn den Widerstreit der Meinungen erregt hat und noch erregen wird. [W07/H]

Der große Musikvereinssaal gedrängt voll. In den Logen schöne Frauen, die Herren in Smoking; im Parterre die bekannten Premièrengesichter, ferner die Musikkritiker sämtlicher Wiener Blätter und auf den Galerien und im Stehparterre junge Leute in schwerer Menge, gleichermaßen bereit, ihre unverbrauchte, jugendliche Energie in tosendem Beifall oder mißtönendem Zischen oder Pfeifen zu entladen. . . Mister Snob und Monsieur Parvenu, alter Adel, Finanzaristokraten, Kapellmeister, Virtuosen - alles bunt durcheinander -, kurz was man so die beste Gesellschaft zu nennen pflegt. [W07/I]

Als »tragische« hat sich Mahlers sechste Symphonie in zwölfter Stunde öffentlich deklariert [W07/J]

Die sechste Sinfonie Gustav Mahlers, die der Konzertzettel eine »tragische« nennt [. . . ] Die Spieler oder Schläger [des Schlagzeugs] stehen nun bei der Aufführung wie Oratoriensänger jedesmal auf, wenn sie einzugreifen haben, und setzen sich dann wieder. [. . . ] Man hat uns oft belehrt, daß erst die Zukunft das Verständnis für die Mahlerschen Sinfonien bringen werde. Die Tatsachen aber stellen sich günstiger. Die Aufführung der Sechsten hat es doch bewiesen: die Mahlerschen Sinfonien (ausverkaufte Generalprobe, ausverkauftes Konzert) sind schon heute bejubelt und verstanden. Beobachten wir nur das Publikum! Die Holzklapper! Verständnisinniges Nicken. Dann Spannung für die Celesta. Trommelwirbel. Die Wangen glühen. Jetzt erwarten sie die Herdenglocken. Ein Pfiff des Piccolo. Auch dieser wird allen klar. Der Mann mit den Tschinellen erhebt sich im Orchester. Er wird sofort erkannt. Baßtuba. Die kennen wir. Gestopftes Horn. Sie sehen genau, wie man das macht. Die Trompete hat das Cis nicht erreicht. Allgemeine Bestürzung. Die Schalltrichter in die Höhe! Sie wissen längst, was das bedeutet. Die Es-Klarinette gibt den grellen Schrei. Auch davon haben sie schon gehört. Beim Harfenglissando geht ein Murmeln der Befriedigung durch die reihen. Und wie auf die Reprise einer Haydnschen Sinfonie wartet alles in Bereitschaft auf den erlösenden Schlag des Hammers. [W07/M]

Bei der Aufführung kam da noch ein befremdendes Moment hinzu, durch das die Geräusche besonders in den Vordergrund traten. Die Spieler des Beckens, des Triangels und des Hammers standen im Orchester regelmäßig auf, wenn sie einen Schlag zu versetzen hatten, als ob sie die Hauptperson des ganzen Werkes wären. Der Sinn dieser überaus störenden Maßregel ist mir unverständlich geblieben. [. . . ] Das Publikum nahm die Intentionen des Komponisten mit ungeheurem Interesse entgegen und bewies den ganzen Abend hindurch die regste Teilnahme. Schon das äußere Bild des vollständig gefüllten Saales, die erwartungsvolle Stimmung der Zuhörer ließ vermuten, daß es sich um ein gesellschaftliches Ereignis handelte, dem niemand gleichgültig gegenüberstehen werde. [W07/O]


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