- 353 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Der Zweifel an sich und dem Lebenszweck hatte Rückfällen Tür und Tor geöffnet. [. . . ]
Der Seelenarzt, der Mahlers Sechste analysieren soll, der müßte sich nach den »Sensationen« erkundigen, die Mahler damals verfolgt und gequält haben. Mit Mahlers Andeutungen kann er sich nicht zufrieden geben. [. . . ] Ein mächtiges Werk wurde musiziert; kein glückspendendes; ein faustisches . . . »Die Kraft erlischt! Dahin ist aller Mut!« [W33/A]
Mahlers »Sechste«, die merkwürdigste, unzugänglichste unter allen seinen Symphonien, ist eine gewaltige, fast gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Schicksalsproblem. Wie meist bei Mahler: Auseinandersetzung mehr ideenhafter als rein musikalischer Natur. [. . . ] Der sehrende [sic] Wille die inbrünstige Sucher- und Bekennergeste erschüttern. Was in der »Sechsten« abgehandelt wird, führt in schaurigsten und einsamsten Bezirke [sic] geistigen Daseins. Der Mensch Brust an Brust kämpfend mit den Gewalten des Fatums, eingekerkert in seine Individualität, immer wieder sich aufbäumend, zum Ende doch vernichtet vom Schlag des Schicksals. Symbolische Musik: Mahler läßt einen Hammer dumpf niederschlagen. Wenn man will: Kurzschluß des musikalischen Ausdrucks, aber doch aufwühlendes Ereignis im Rahmen eines musikalischen Geschehens, das durch die Gewalt und Größe seiner Konzeption besticht. [W33/B]

Diese Musik hat ja ekstatische Aufschwünge, hat dramatische Kontraste [W33/C]

Die »Sechste« ist ein einziger stürmischer Aufschwung zu höheren symphonischen Gefilden als in den früheren Werken. [. . . ] Die inbrünstige Leidenschaft der Diktion ist wieder Mahlers selbst, der ganze, fanatische, ekstatische Mahler. [W33/D]

Haydns liebe »Symphonie mit dem Paukenschlag« hat ein düsteres Seitenstück gefunden: Mahlers »Symphonie mit dem Hammerschlag«. So wenigstens erlaubten wir uns seinerseits jene Sechste in A-Moll zu nennen, die ihr Schöpfer selbst als »tragische« bezeichnet hat. Eine Aufführung beim Tonkünstlerfest in Essen stand bevor; und sofort entzündete sich die Phantasie des Komponisten an der Vorstellung der Kruppschen Eisenwerke. [. . . ] Der Held fällt unter den Hammerschlägen des Geschicks, und man hört sie. [. . . ] Die pathetischen Themen zeigen eigentlich kein neues Gesicht, nehmen gleichsam nur die Mahlersche Mimik an. [. . . ] In den erbitterten Durchführungskämpfen [. . . ] gibt es schließlich nur Besiegte. . . Ein motivisches Grundgebilde, dessen symbolische Bedeutung kaum zu überhören ist, geht durch das Werk: Ein A-Dur-Dreiklang fällt kraftlos, wie vernichtet, in den A-Moll-Dreiklang zurück. Einen Hamlet-Gedanken nannten wir das einmal. [. . . ] In der Sechsten sind übrigens der Einführung von Celesta und Herdenglocken eigenartige, mystisch-traumhafte Wirkungen abgewonnen worden. sie führen auf lichte Bergeshöhen; ringsum aber dräuen Abgründe und Höllenschlünde. [. . . ] Es gibt warme und kalte Musik, sagte Bülow einmal. Auch siedendheiße, wie diese Symphonie. [W33/E]

Allein muß er durch die Schrecken der Hölle sich durchschlagen. Gustav Mahlers »Sechste Symphonie« ist der dunkelste Teil dieses Wegs. Es ist Musik, die Luzifer komponiert haben könnte, nachdem er aus dem Himmel gestürzt war und den tiefsten Abgrund der Weltennacht erreicht hatte. Das Leben im himmlischen Licht ist nur eine letzte, ferne Erinnerung. Das Dunkel verschlingt alle frühere Existenz. Das Schicksal saust als Hammer nieder, der alles entzweischlägt. Die Schlagwerke in dieser Symphonie sind alle Nachtgeräusche, schreckende, grelle, quälende. Inmitten dieses Grauen steht ein Mensch, doch nein, er geht, er marschiert, er sucht einen Weg, er schlägt die Trommel, nichts kann ihn aufhalten, er sinkt in Abgründe, er marschiert weiter, Fratzen blecken, er beißt die Zähne zusammen und marschiert, formlose Massen stürzen vor ihm nieder, er marschiert. Am Schluß der Symphonie bricht er zusammen; ein ganz ungewohnter Schluß bei Mahler. Hat das Schicksal den einsamen Starken ganz zu Boden geschlagen? Die Siebente Symphonie gibt darauf die Antwort. Am Anfang dieses Werkes richtet sich der Zusammengesunkene wieder auf. Sein Zusammenbruch am Schluß der Sechsten Symphonie war nur eine Episode, welche die Schwere der hier ausgefochteten Geisteskämpfe beweist. [. . . ] Zwischen der naiven Welt Schuberts [h-Moll-Symphonie] und der Welt Gustav Mahlers liegt der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Mit Lord Byron beginnt die Reihe der ruhelosen, tragischen Seelen der aus dem Paradies ausgestoßenen Kämpfer, mit August Strindberg und Gustav Mahler setzt sie fort. Das Zerrissene, Ruhelose, Unerlöste steht ihnen als schreckendes Zeichen an die stolze Stirn geschrieben. [. . . ] die magischen Zeichen des Werks, dessen Aufführung allem Düsteren und Schreckenden Klangpracht gegeben hat [W33/F]

Gustav Mahler schrieb einmal an seinen Freund und späteren Biographen Richard Specht: »Meine Sechst wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.« Das mag damals seine Richtigkeit gehabt haben.

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