- 40 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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jüdischen Bedrohung. In Handwerk, Wirtschaft und Industrie zeigten sich die ehrgeizigen und erfolgshungrigen Juden dem behäbigen Wiener Bürgertum, das sich mit den Neuerungen der modernen Zeit schwertat, überlegen und nahmen in vielen Bereichen Führungspositionen ein.123
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Hamann, S. 469ff.
Auch in der intellektuellen Sphäre empfand man die Überlegenheit, was Hermann Bahr zu der Spöttelei verlaßte, daß »jeder, der ein bißchen Verstand oder irgendein Talent hat, deshalb gleich als Jude gilt; sie können sich’s nicht anders erklären«124
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Hermann Bahr, Austriaca, Wien 1911, S. 123.
. Auch Mahler sah in der durch sein Judentum hervorgerufenen Diskriminierung den Ansporn zu noch höherer Leistung, wie es sein von Alfred Roller überlieferter Ausspruch zum Ausdruck bringt: »Wie wenn ein Mensch mit einem zu kurzen Arm auf die Welt kommt: da muß der andere Arm desto mehr vollbringen lernen und leistet schließlich vielleicht Dinge, die beide gesunde Arme nicht fertig gebracht hätten.«125
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Alfred Roller, Die Bildnisse Gustav Mahlers, Leipzig 1922, S. 25.

Theodor Billroth hatte in seiner schon angesprochenen Schrift gegen die Juden an den deutschen Universitäten 1876 postuliert, den östlichen Juden fehle es an unseren auf der mittelalterlichen Romantik basierenden deutschen Empfindungen.126

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Hamann, S. 473.
Wenn Mahler sich in der früheren Zeit seines Schaffens vornehmlich mit Texten aus Des Knaben Wunderhorn auseinandersetzt, wenn auch sein Werk Das klagende Lied in dieser Empfindungswelt handelt und schließlich auch sein ausführlicher Brief an Joseph Steiner vom Sommer 1879 ganz dieselbe Sprache spricht, dann belegt das Mahlers Streben, sich in eben dieser deutschen Romantik, in der sich eine Affinität zum Mittelalter zeigt, heimatlich zu finden, sich also der deutschen Kultur zu assimilieren und gegen das östliche Judentum abzusetzen.

Von eben diesen Ostjuden wurde dann, wohl als Reaktion auf die fehlende Akzeptanz in westlichen Kreisen, der Zionismus stärker aufgegriffen als von der Wiener Intelligenz.127

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Glettler, S. 189.
Entsprechend lassen sich auch bei Mahler keine zionistischen Tendenzen aufweisen. Er gehörte zur großen Gruppe der Wiener jüdischen Intellektuellen, die durch Assimilation an die deutsche Kultur der Diskriminierung ihres Judentums entgehen wollten. Assimilation und Emanzipation konnten nur durch einen starken Bildungsdrang auf diese deutsche Kultur hin erreicht werden, wofür Mahler als Beispiel steht. Die assimilierten Juden fanden Aufnahme in der Welt des Geistes und der Kunst: im Theater, in der Literatur und in der Musik. Hier bildeten sie die kulturelle Avantgarde. Und wenn, anders als im Bereich der Literatur, wo Schnitzler, Hofmannsthal und Altenberg die Szene beherrschten, in der Avantgarde der bildenden Kunst, der Secession, die Juden als Künstler nicht vertreten waren, so bildete doch der »goût juif« die Grundlage für den Erfolg auch dieses Zweiges der Wiener Kulturszene.128
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Beller, S. 235–237.

Aus den dargestellten Zusammenhängen zwischen Mahlers – durchaus nicht sehr zahlreichen – Aussagen einerseits und der gesellschaftlichen Situation in Wien andererseits geht hervor, daß Mahler genau über die Probleme orientiert war, die seine Abstammung ihm bescherte, aber ebenso über die Möglichkeiten, diese Probleme, wenn auch nicht aus dem Weg zu räumen, so doch aber anzugehen. Von einem realitätsblinden


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