- 41 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Künstlertum kann bei Mahler folglich nicht gesprochen werden. Im Gegenteil: Die diskriminierende Grundtendenz des sich im Wachstum befindlichen Wiener Antisemitismus, die Verknüpfung jedes Urteils und jeder Entscheidung mit antijüdischer Hetze wurde von Mahler als permanente gesellschaftliche Erscheinung erfahren.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Mahler die Oper Le juif polonais von Camille Erlanger, die 1900 in Paris herauskam, während seines Aufenthaltes dort besuchte129

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Karpath, Begegnung, S. 153.
und sie in Wien 1906 auf den Spielplan setzte. Die Oper spielt in einem elsässischen Dorf im Jahre 1833. Im Zentrum der Handlung steht der Raubmord an einem durchreisenden reichen polnischen Juden, der fünfzehn Jahre zurückliegt und nicht aufgeklärt wurde. Der Täter, der Gastwirt Mathis, inzwischen hochangesehener Bürgermeister des Ortes, wird durch vergleichbare Ereignisse an seine weit zurückliegende Tat erinnert und geht schließlich an seinen Schuldgefühlen zugrunde. Die musikalische Leitung der Wiener Aufführung hatte Bruno Walter, das Werk brachte es nur auf drei Aufführungen. Ob Mahlers Interesse an der Oper darauf zurückzuführen ist, daß er die Handlung des Werkes metaphorisch zur Gegenwart in Wien sah, bleibt offen.

Die Frage, inwieweit Mahlers Judentum und die damit verbundenen Probleme Einfluß auf seine Musik genommen haben, ist schon zu seinen Lebzeiten kontrovers diskutiert worden. In den jeweiligen Ausführungen lassen sich die antisemitischen bzw. philosemitischen Wurzeln des Autors nicht verkennen. Deshalb gehört diese Diskussion eher in den Bereich der Rezeptionsgeschichte. Die hier interessante Frage, ob die antisemitische Bedrohung zum Inhalt der Mahlerschen Musik wurde, läßt sich in den Schriften, die sich global mit dem Jüdischen in Mahlers Musik beschäftigen, nicht wiederfinden. Eher bewegen sich die Gedankengänge auf der antisemitischen Seite in den Argumentationslinien, die Wagner in seiner Schrift Das Judentum in der Musik 1850 vorgab. Auf der philosemitischen Seite dagegen wird das Assimilationsphänomen diskutiert, die Möglichkeit, als Jude an die große deutsche Musiktradition anzuknüpfen und sie mit eigenen Mitteln zu bereichern.130

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Vgl. Jens Malte Fischer, Das »Judentum in der Musik«. Kontinuität einer Debatte, in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38, 3. Teil, hg. v. Hans Otto Horch und Horst Denkler, Tübingen 1993, S. 227–250.

Beziehung II: Georges Picquart

Die Beziehung zwischen Mahler und Georges Picquart sowie einem Kreis weiterer Franzosen, die für Gerechtigkeit des zu Unrecht verurteilten französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus kämpften, übermittelt Alma Mahler in ihren Erinnerungen.

Der Werdegang Picquarts im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre läßt sich in den hier relevanten Aspekten etwa so skizzieren: Der katholische Elsässer Oberstleutnant Georges Picquart (1854–1914) entdeckte 1896 als Chef du Bureau des Renseignements (Leiter des Nachrichtenbüros) die Unschuld des 1894 zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel (Französisch-Guayana) verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus. Nach Bekanntgabe seiner Entdeckung und seinem Einsatz für die Rehabilitierung von Dreyfus wurde Picquart seines Amtes enthoben und in das französische Nordafrika versetzt, mit der Absicht, ihn dort bei


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