- 45 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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»[...] Pfitzner, mit der eigenen Probe fertig, dachte nicht daran, Mahler zuliebe auszuharren, murmelte etwas von dringend Zutunhaben und lief davon. Lief zu mir. Am Wege kaufte er noch schnell eine Rose, die er mir wortlos auf das Klavier legte. Übrigens war er erregt, böse erregt. Er war – es war der 1. Mai – dem Arbeiterzug am Ring begegnet. Voll Wut über ›proletenhafte‹ Gesichter war er schnell in eine Seitengasse eingebogen und fühlte sich selbst in meinem Zimmer noch verfolgt.
Bald kam Mahler. Mit einem Gemisch von Humor und Verdruß sah er Pfitzners Flucht nun im wahren Licht. Aber es machte ihm heute nichts. Er war zu glücklich. Er war dem Arbeiterzug auf dem Ring begegnet, war eine Zeitlang sogar mitgewandert – alle hätten ihn so brüderlich angesehen –. Das eben wären seine Brüder! Diese Menschen seien die Zukunft!
Krach! Da war er wieder, der stundenlange Disput! Ohne Wohlwollen von beiden Seiten geführt, ich dazwischen.«152
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Alma Mahler, Erinnerungen, S. 109f.

Man wüßte wohl gern etwas mehr über diesen stundenlangen Disput, in dem Mahler seine sozialistischen Ansichten gegen die reaktionäre Gesinnung Pfitzners verteidigte. Es bleibe nicht unerwähnt, daß die autographe Reinschrift der Sechsten Symphonie das Datum »Wien, 1. Mai 1905«153

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Gustav Mahler, Sämtliche Werke, Kritische Gesamtausgabe, Band VI: Symphonie Nr. 6, Partitur, Revidierte Ausgabe 1998, Frankfurt/M. 2000, Vorwort.
trägt, also das Datum des Arbeiterzuges und des stundenlangen Disputes. Nach dem von Alma beschriebenen Ablauf scheint es eher unwahrscheinlich, daß Mahler an diesem Tag noch intensiv an der Reinschrift gearbeitet hat. Es muß spekulativ bleiben, ob diese Datierung symbolisch gemeint ist.

Ein Tagebucheintrag Almas vom 22. März des gleichen Jahres berichtet von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Pfitzner einerseits und Mahler und Gerhart Hauptmann andererseits. Pfitzner habe gesagt, die tiefste und wahrste Seite an Wagner sei sein Deutschtum, wogegen Mahler und Hauptmann der Meinung gewesen seien, daß, je größer ein Künster sei, er desto höher über den Nationen stehen müsse.154

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Alma Mahler, Erinnerungen, S. 108f.

Die kosmopolitische Einstellung, die Mahler hier gegenüber Pfitzner vertritt, steht in gewissem Gegensatz zu den deutschnationalen Tendenzen des Kreises, dem er um 1880 nahestand. Dieser Gesinnungswandel hat jedoch seine historischen Gründe. Dem Linzer Programm der deutschnationalen Bewegung aus dem Jahre 1882 wurden 1885 antisemitische Klauseln hinzugefügt.155

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Beller, S. 178.
Die Deutschnationalen bekämpften gemeinsam mit der 1882 gegründeten Christsozialen Partei den österreichischen Liberalismus mitsamt seiner mächtigen Presse, der in den Händen von Juden lag. Der Großkapitalismus war in Österreich stärker als im übrigen Europa von Juden entwickelt worden, wofür die Namen Rothschild und Wertheimer stellvertretend stehen. In diesem Kampf machten sich die Deutschnationalen den in der Wiener Bevölkerung frequenten Antisemitismus zunutze. Viele jüdische Intellektuelle wandten sich in dieser Entwicklung dem Sozialismus als neuer Gegenkultur, als zukünftiger Lebensmöglichkeit des assimilierten Juden zu. So geriet die österreichische Sozialdemokratie zunehmend in den Ruf einer Judenpartei,

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