»[...] Pfitzner, mit der eigenen Probe fertig, dachte nicht daran, Mahler zuliebe auszuharren, murmelte etwas von dringend Zutunhaben und lief davon. Lief zu mir. Am Wege kaufte er noch schnell eine Rose, die er mir wortlos auf das Klavier legte. Übrigens war er erregt, böse erregt. Er war – es war der 1. Mai – dem Arbeiterzug am Ring begegnet. Voll Wut über ›proletenhafte‹ Gesichter war er schnell in eine Seitengasse eingebogen und fühlte sich selbst in meinem Zimmer noch verfolgt. Bald kam Mahler. Mit einem Gemisch von Humor und Verdruß sah er Pfitzners Flucht nun im wahren Licht. Aber es machte ihm heute nichts. Er war zu glücklich. Er war dem Arbeiterzug auf dem Ring begegnet, war eine Zeitlang sogar mitgewandert – alle hätten ihn so brüderlich angesehen –. Das eben wären seine Brüder! Diese Menschen seien die Zukunft! Krach! Da war er wieder, der stundenlange Disput! Ohne Wohlwollen von beiden Seiten geführt, ich dazwischen.«152
Man wüßte wohl gern etwas mehr über diesen stundenlangen Disput, in dem Mahler seine sozialistischen Ansichten gegen die reaktionäre Gesinnung Pfitzners verteidigte. Es bleibe nicht unerwähnt, daß die autographe Reinschrift der Sechsten Symphonie das Datum »Wien, 1. Mai 1905«153
Ein Tagebucheintrag Almas vom 22. März des gleichen Jahres berichtet von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Pfitzner einerseits und Mahler und Gerhart Hauptmann andererseits. Pfitzner habe gesagt, die tiefste und wahrste Seite an Wagner sei sein Deutschtum, wogegen Mahler und Hauptmann der Meinung gewesen seien, daß, je größer ein Künster sei, er desto höher über den Nationen stehen müsse.154
Die kosmopolitische Einstellung, die Mahler hier gegenüber Pfitzner vertritt, steht in gewissem Gegensatz zu den deutschnationalen Tendenzen des Kreises, dem er um 1880 nahestand. Dieser Gesinnungswandel hat jedoch seine historischen Gründe. Dem Linzer Programm der deutschnationalen Bewegung aus dem Jahre 1882 wurden 1885 antisemitische Klauseln hinzugefügt.155
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