- 44 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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wirkliche Wertschätzung Picquarts nicht vorliegt. Nicht unterschätzt werden dürfen aber die »Festwochen« für den Dreyfus-Kreis im Oktober des Jahres, die in Mahlers Dirigententätigkeit singulär sind.

d.  Nationalismus und Sozialismus in der Wiener Zeit

Emma Adler, die Frau Victor Adlers, schreibt in ihrer unveröffentlichten Biographie ihres Mannes folgendes:

»Gustav Mahler hat sich dem politischen Leben und allem Parteimäßigen ferngehalten. Daß er sozialistisch gefühlt hat, weiß jedermann, der mit ihm in Berührung kam.
Bei den Wahlen im Jahre 1901 gab er als k. k. Direktor der Staatsoper [es muß Hofoper heißen, A. d. V.], der er damals war, offen seinen Stimmzettel für den sozialistischen Kandidaten seines Wahlkreises.
Der Kandidat hieß Victor Adler149

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Blaukopf, Dokumente, S. 228.

In der Zeitschrift Kunst und Volk von 1926 findet sich diese Bemerkung mit fast identischem Wortlaut – einschließlich des Fehlers »Staatsoper«. Der kurze Artikel mit dem Titel Victor Adler und Gustav Mahler150

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Kunst und Volk (Wien) 1, 10 (1926), S. 6.
ist signiert mit D. B., was ein Kürzel für den sozialistischen Journalisten David Josef Bach sein dürfte. Victor Adler wurde als Gegenkandidat gegen den christlichsozialen Abgeordneten bei der Stichwahl am 7. Januar 1901 übrigens nicht in den Reichstag gewählt. Aber es ist doch bemerkenswert, daß Mahler sich als kaiserlicher Beamter offen für den Sozialismus aussprach. Der Artikel kommt dann wie folgt zum Schluß:

»Die Christsozialen tobten, das »Deutsche Volksblatt« konnte sich an Beschimpfungen nicht genug tun. Aber wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß ein Mann, dessen ganzes Lebenswerk ihn unter die Neuerer, unter die Umstürzler, unter die Revolutionäre reiht, ein Mann, der ebenso zu leiden bereit war, wie er die Leiden anderer nach Kräften zu mildern bemüht war, daß ein solcher Mann dem Sozialismus nahestand, so möge dies folgende wahre Anekdote aus seinem Leben beweisen:
Es war der 1. Mai 1905. Ein berühmter Komponist, dessen Name nichts zur Sache tut, war Gast im Hause Mahler. Beide hatten sich früh morgens in die Innere Stadt begeben. Der Gast erschien mittags mit folgenden Worten: ›Nein, wie schrecklich, diese Leute auf der Straße, diese unintelligenten, halb vertierten Gesichter, diese verfallenen Weiber, dieses Gedränge, dieser Geruch! Ich konnte nur mit Mühe weiter und bin deshalb zu spät gekommen.‹ Etwas später erschien Mahler und sagte: Du mußt entschuldigen, aber es war zu herrlich. Diese entschlossenen, fröhlichen Menschen, diese Freude, diese Heiterkeit, diese Kraft! Es war so schön, ich konnte nicht anders, ich bin ein Stück mitmarschiert, daher meine Verspätung.«151

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Der letzte Absatz erschien in der gleichen Zeitung nochmals im November 1928.

Die gleiche Begebenheit schildert Alma Mahler mit Nennung des Komponisten:


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