- 68 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Nicht wiedersehen!
Wo die schönen Trompeten blasen

Neben den eigentlichen Kriegsliedern spielt auch in diesen Liedern der Krieg und der darin verwickelte Soldat eine zentrale Rolle. Deshalb können auch diese Lieder mittelbar als Kriegs- oder mindestens als Soldatenlieder betrachtet werden. Daraus ergibt sich, daß in zehn der insgesamt fünfzig Liedern Mahlers der Soldat die zentrale Rolle spielt. Das sind also genau zwanzig Prozent von Mahlers gesamtem Liedschaffen!

Mahler bearbeitete die Wunderhorn-Vorlagen in vielfältiger Weise. Seine Charakterisierung der Quellen begründet die Freiheit seines Umgangs damit – er sagte, »das seien keine vollendeten Gedichte, sondern Felsblöcke, aus denen jeder das Seine formen dürfe«3

3
Alma Mahler, Erinnerungen, S. 121.
. Dabei ist die Tatsache des Bearbeitens selbst genauso wichtig wie die Art und Weise dieses Bearbeitens. Denn indem Mahler in die Vorlagen eingreift, Textsegmente oder Strophen streicht, andere Wörter wiederholt, um »das Seine zu formen«, dokumentiert er, daß es ihm nicht um die musikalische Interpretation eines Kunstwerks der Lyrik geht, sondern um den persönlichen Ausdruck einer Idee. Die Eggebrechtsche Determination, bei einem Kunstlied handele es sich um Interpretation von Kunst durch Kunst, trifft auf Mahler also nicht zu. Denn ihm liegt ja nach eigener Aussage kein Kunstwerk vor, das er musikalisch interpretiert, sondern ein – Felsblock. An anderer Stelle sagt er, daß »diese Poesie sich von jeder anderen Art von ›Literaturpoesie‹ wesentlich unterscheidet und beinahe mehr Natur und Leben – also die Quellen aller Poesie – als Kunst genannt werden könnte«4
4
Mahler, Briefe, S. 299.
. Er selbst ist also erst der Künstler, der hier etwas schafft. Umso bedeutender werden die Texte, die er vertont, als Zeugnis seiner selbst.

Bei Franz Schubert oder Richard Strauss kann kaum bei jedem ihrer etwa 600 bzw. 200 Lieder davon ausgegangen werden, daß der Künstler hier sein Inneres unmittelbar der Öffentlichkeit mitteilt. Bei einigen Produkten ist das gewiß der Fall, etwa bei Schuberts Winterreise oder in den Vier letzten Liedern von Strauss. In anderen Fällen aber mag es andere Motivationen geben, dieses oder jenes Gedicht zu vertonen, als sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Von einem Gedicht können Stimulationen ausgehen, etwas musikalisch Interessantes und Neues zu wagen. Ein Gedicht kann dazu anregen, das kompositorische Hauptaugenmerk auf eine ganz bestimmte Facette des Textes zu legen. Ein schon einmal vertontes Gedicht kann den Komponisten dazu bewegen, dem gleichen Text eine ganz andere Musikalisierung zu verleihen.5

5
Vgl. die Übersicht über Lieder von Richard Strauss, die neben ihm von anderen Komponisten vor und nach ihm vertont wurden, in: Die Texte der Lieder von Richard Strauss. Kritische Ausgabe von Reinhold Schlötterer, Pfaffenhofen 1988, S. 262.

Innerhalb der 28 angeführten Komponisten sind die immerhin vierzehn Übereinstimmungen mit Max Reger besonders auffällig. Danach folgen vier Übereinstimmungen mit Hans Pfitzner und Franz Schubert und drei mit Robert Schumann, Carl Loewe, Ludwig Thuille und Eduard Lassen. In der Einleitung zu diesem Buch u.a. die Gründe diskutiert werden, die Strauss zur Heranziehung der jeweiligen Texte veranlaßten.

Diese Motivationen, die noch um einige weitere ergänzt werden könnten, scheinen für Mahler nicht zuzutreffen. Bei ihm ging es darum, eine Idee

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