- 8 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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werden hier zunächst die Veröffentlichungen zu den Wunderhorn-Liedern und darauf folgend die Arbeiten zur Sechsten Symphonie. Rezeption ist dagegen der eher akzidentielle Zugang zu dieser Musik, wie er sich vor allem in Aufführungskritiken findet, die diese Musik assoziativ in Worte zu fassen versuchen. Im weiteren Sinn sind die als Interpretation bezeichneten Dokumente und somit auch die Interpretationskonstante als Arten von Rezeption anzusehen.

Nicht zuletzt geben Äußerungen Mahlers selbst Anlaß, der Rezeption seiner Musik hohe Bedeutung für die Erschließung ihrer Aussage beizumessen. In einem undatierten Brief an Richard Batka schreibt er:

»Daß sie aber fragen, ›woran‹ geschaffen wird, will mir erst recht nicht gefallen. Darüber dürften doch wohl erst unsere Epigonen zur Erkenntnis gelangen [...] Wenn ich ein Werk geboren habe, so liebe ich es, zu erfahren, welche Saiten es im ›Andern‹ zum Tönen bringt; aber einen Aufschluß darüber habe ich bisher weder mir selbst gegeben, noch viel weniger von anderen erhalten können. Das klingt mystisch! Aber vielleicht ist die Zeit wieder gekommen, wo wir und unsere Werke uns wieder ein wenig un-›verständlich‹ geworden sein werden. Nur, wenn dem so ist, glaube ich daran, daß wir ›Woran‹ schaffen.«29

29
Gustav Mahler. Briefe, erweiterte und revidierte Neuausgabe, hg. von Herta Blaukopf, Wien 1982 [= Mahler, Briefe], S. 145.

Mit Bezug zum Scherzo seiner Fünften Symphonie, das vom Publikum kaum verstanden werden könne, schreibt er am 14. Oktober 1904 an Alma: »O, könnt ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode aufführen«30

30
Ein Glück ohne Ruh’. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste Gesamtausgabe, herausgegeben und erläutert von Henri-Louis de La Grange und Günther Weiß. Berlin 1995 [= Briefe Mahlers an Alma], S. 221.
. Und am 22. Juni 1909 teilt er ihr mit:

»Aber die Hauptsache ist doch das künstlerische Gebilde, das sich in dürren Worten nicht ausdeuten läßt. Die Wahrheit ist für jeden – und für jeden zu verschiedenen Epochen verschieden – anders geartet; sowie es mit den Symphonien Beethovens ist, die ja auch für jeden – und zu jeder Zeit – immer wieder etwas Anderes und Neues sind.«31

31
Briefe Mahlers an Alma, S. 388.

Mahler bringt hier zum Ausdruck, daß der Inhalt seiner Musik von ihm selber gar nicht in Gänze erfaßt werden könne. Dieses werde erst späteren Generationen, den Epigonen, gelingen. Mahler berechnet eine Spanne von 50 Jahren nach seinem Tode – das ist ziemlich genau die Zeit, in der sich die hier in Rede stehende Interpretationskonstante niederschlug. Ein Kunstwerk verkünde zu jeder Zeit andere – Wahrheiten! Er selbst ist außerordentlich interessiert an dem, was andere mit seiner Musik assoziieren. Das, was seine Musik in der Zukunft an Interpretationen auslöst, umfaßt ihren eigentlichen Gehalt – ein Votum für den rezeptionsästhetischen Zugang!

Diesem Gedankengang entsprachen Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher 1990 im Vorwort jenes Bandes, in dem sich die Musikwissenschaft mit der in den 70er Jahren in der Literaturwissenschaft entwickelten Rezeptionsforschung auseinandersetzte. Es heißt dort:


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