- 96 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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aufweisen. Das geht jedenfalls aus dem von ihr selbst verfaßten Kritischen Bericht zu beiden Ausgaben hervor. Es wurde schon erwähnt, daß Mahler den Gesangstexten in der Klavierfassung mehr Sorgfalt entgegenbrachte als in der Orchesterfassung. Schließlich sei das fehlende Komma komponiert, wozu sie aber keinen Beweis liefert und was auch nicht recht nachvollziehbar ist. Ihre Schlußfolgerung lautet: »Die Aussage wird zur massiven Anklage, wie sie aus dem Wunderhorn sonst nicht bekannt ist, sondern eher ein Vorbote der Brechtschen Anti-Kriegs-Songs zu sein scheint: Der kleine Soldat wagt es, gegen Gott und Herrscher aufzubegehren, indem er wohl zugesteht, daß himmlische Hilfe wohl den Mächtigen zuteil wird, aber niemals den eigentlich am Krieg beteiligten.«70
70
Hilmar-Voit, S. 223f.
Abermals läßt Mahlers Komposition hier einen Bezug zu Brechts Anti-Kriegs-Lyrik zu. Diese Interpretation scheint ebenso schon im Wunderhorn-Gedicht an sich angelegt zu sein. In einem Kommentar sozialistischer Provenienz heißt es: »Die frommen Sprüche verfangen bei diesem Soldaten nicht, er zeigt sich aufgeklärt über den Bund zwischen Thron und Altar und seinen Zweck, den Mächtigen dieser Welt geduldiges Kanonenfutter für ihre Kriege zu liefern. Am Schluß entlädt sich der rebellische Unmut der Schildwache wie im Deserteurlied unmittelbar gegen den Vorgesetzten.«71
71
Erläuterungen zur deutschen Literatur. Romantik, hrsg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen, Berlin 1967, S. 306.

Zu Straßburg auf der Schanz’

Mahler hat von den sechs Wunderhorn-Strophen nur die ersten vier herangezogen. In der fünften bittet der Erzählende seine Brüder, ihn zu erschießen »daß das Blut ’raus spritzt«, sein junges Leben nicht zu verschonen. In der sechsten bittet er Gott um die Aufnahme in den Himmel. Beides lag Mahler gleich fern: sowohl das Sich-Abfinden mit dem eigenen Tod als auch der Frieden mit Gott. Mahlers Lied endet ganz anders mit den Worten »das klag ich an« – auf der Subdominante! Mit nichts ist er fertig. Erk-Böhme übermittelt das Lied in zwei Versionen72

72
Erk-Böhme III, Nr. 1394 und 1395.
, einer Volksmelodie aus dem Hessen-Darmstädtischen und der Silcher-Fassung von 1835 (siehe folgende Seiten). Textlich entspricht Silcher der Wunderhorn-Version, während das Volkslied stärker abweicht. Zur Silcher-Version merkt Erk-Böhme an, man finde davon gewöhnlich nur noch die Strophen 1–4, was auch genüge. Klusen gibt an, daß das Straßburg-Lied in Böhmen in verschiedenen Versionen bekannt gewesen sei.73
73
Ernst Klusen, Die Liedertexte Gustav Mahlers, in: Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde 6 (1933), S. 181.
Es ist also möglich, daß Mahler nur die ersten vier Strophen vertont hat, weil er nur diese als Volkslied in seiner Heimat gesungen kannte; Silchers Lied ist zwar streng genommen kein Volkslied, hat aber im Laufe der Zeit diese Funktion angenommen. In späteren Veröffentlichungen finden sich jedoch beide Versionen noch mit sechs Strophen.74
74
Z.B. die Volksliedfassung in: Deutsche Soldatenlieder, ausgew. von Heinr. Scherrer, Leipzig 1914; die Silcher-Version in: Burschen-Liederbuch, Regensburg 1928.
Mahlers Musikalisierung des Textes legt allerdings den Schluß nahe, daß er bewußt auf die beiden Schlußstrophen verzichtet hat, da sie dem Lied eine andere Wendung geben, die seiner Konzeption zuwider läuft.


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