Oliver Kautny Arvo Pärts Passio und Johann Sebastian Bachs Johannespassion - Rezeptionsästhetische Perspektiven8 1 EinleitungDie nun darzustellenden Überlegungen resultieren aus einer eingehenden Beschäftigung mit musikalischer Hermeneutik. Genauer: mit Interpretationen von Bachs und Pärts Musik. Ziel dieser Auseinandersetzung mit den musikalischen Exegeten sollte ursprünglich die Aneignung eines methodischen Rüstzeugs zur Analyse dieser Musik sein, führte aber zu unerwarteten Schwierigkeiten. Manches ließ sich aus kritischer Perspektive nicht nachvollziehen, schien kritikwürdig. Erst der Schritt zurück und der Blick auf die methodologischen Voraussetzungen der vorliegenden Interpretationen verriet, daß einige interpretatorische Probleme dieser Studien auf deren strukturelle Vorgehensweise zurückzuführen war. Das ausführliche Ergebnis dieser Hermeneutikkritik ist in meiner Examensarbeit bzw. - für die Bachexegese - im International Journal of Musicology 8 (1999) nachzulesen. Der zentrale Kritikpunkt meinerseits lautet, daß die meisten Hermeneuten einen substantialistischen Werkbegriff unausgesprochen voraussetzen. Zwischen dieser unhinterfragten Norm und der Willkür zahlreicher Deutungen - vor allem in der Bachforschung - ist ein Mißverhältnis zu beklagen.Aus dieser kritischen Lektüre bereits vorhandener Bach- und Pärtinterpretationen entstand letztlich die Notwendigkeit, auf neuen methodischen Wegen aus diesem hermeneutischen Dilemma herauszufinden. Eine adäquate Lösung dieses interpretatorischen Problems stellt m.E. die Rezeptionstheorie bereit. Durch die bewußte Reflexion von Kunst im Spiegel der Wahrnehmung werden gleich zwei Aspekte traditioneller Hermeneutik reformuliert: die bisher stillschweigend vorausgesetzte unreflektierte Norm - sprich die Voraussetzung einer Interpretation - kann sichtbar, nachvollziehbar oder kritisierbar gemacht werden. Die ohnehin praktizierte Subjektivität von Deutung wird explizit und erklärlich - letztlich offen für einen hermeneutischen Diskurs und intersubjektive Überprüfung. Methodisch knüpfe ich dabei an Hans Robert Jauß'
und Wolfgang Isers rezeptionsästhetische Interpretationsverfahren
an. Rezeptionsästhetik geht davon aus, daß Verstehen nicht nur
im Kunstwerk, sondern insbesondere in der ästhetischen Erfahrung des
Rezipienten begründet ist. Diese verändert sich jedoch in der
Geschichte und dadurch auch Interpretation. Aus welcher Perspektive Kunst
betrachtet wird, bedingt also der Rezipientenstandpunkt. Ohne die historische
Perspektive von Kunstreflexion grundsätzlich in Frage stellen zu wollen,
sollen die Johannespassionen von Pärt und Bach in dieser Studie aus
der Sicht des 20. Jahrhunderts als Gegenstand aktueller ästhetischer
Erfahrung verstanden werden. Das ermöglicht
8 Für den Vortrag und die Publikation wurde eine frühere Version (Archiv für Musikwissenschaft (3/1999)) überarbeitet. |