- 75 -Kietz, Nicola: Musikverstehen und Sprachverstehen 
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4.2 Harmonielehre als Grammatik der Musik

Ein herausragendes Charakteristikum der westlich-europäischen Musik ist die Herausbildung einer zunehmend komplexeren Mehrstimmigkeit (welche auf Kosten einer stärkeren Ausdifferenzierung anderer musikalischer Parameter, z.B. des Rhythmus oder der Melodik, ging), die schon im Mittelalter Theorien über die Beziehungen von Zusammenklängen notwendig machte. Als Begründer der heutigen Harmonielehre wird i.a. Rameau ("Traité de l'harmonie", 1722) angesehen. Er verdeutlicht in seiner Schrift die grundlegende Funktion der Harmonik für die westlich-europäische Musik und legt ihre Regeln dar, u.a. das Basisprinzip, daß innerhalb des musikalischen Beziehungsgefüges jeder Akkord eine bestimmte Funktion besitzt, dadurch, daß er in Relation zu einem tonalen Zentrum steht.
Die Analogie zur sprachlichen Grammatik ist offensichtlich. Auch dort erhalten sprachliche Einheiten ihre Funktion erst in Relation zu den anderen Einheiten des Sprachsystems.
Diese Gemeinsamkeit legt es nahe, im Falle der Harmonielehre von einer "Grammatik der Musik" zu sprechen. Herbert Bruhn (1988) geht in seinem Buch der Hypothese nach, daß die Analogie nicht nur auf der Ebene der objektiven Strukturbeschreibung besteht, sondern auch psychologische Realität besitzt, d.h.,

"daß die Verarbeitung harmonischer Zusammenhänge in der Musik in Beziehung zur Verarbeitung sprachlicher Zusammenhänge steht." (ebd., S. 4)

Die Möglichkeit, von einer musikalisch-harmonischen Grammatik sprechen zu können, stützt Bruhn auf die Tatsache, daß sich harmonische Beziehungen und Strukturen ebenso wie sprachliche Zusammenhänge mit Hilfe von Propositionen (siehe Kap. 3.3.2.2.2) beschreiben lassen. So ist z.B. die Proposition

Subdominante ({4,6,1},{1,3,5})

die Beschreibung der Relation zwischen dem Akkord, der die Tonleiterstufen 4, 6 und 1 beinhaltet und demjenigen, der die Stufen 1, 3 und 5 umfaßt. Diese Subdominant-Beziehung (S) sowie die Dominant-Beziehung (D) bezeichnet Bruhn als konditionale Relationen, die von der Existenz eines tonalen Zentrums abhängig sind. Durch diese Abhängigkeitsbeziehung erzeugen (S) und (D) Spannung, während die Tonika-Beziehung als Identitätsrelation dies


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