- 103 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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als räumliche Distanz vorstellen, sind für Kleinkinder fließende Bewegung und Gewicht maßgebend. Raum wird durch die körperliche Ausdehnung der Gliedmaße erfahren; Zeit vollzieht sich im gleichmäßigen Fluß einer Bewegung, ihre Gliederung wird körperlich im „leicht“ und „schwer“ verschiedener Aktionsfolgen oder Zustände erfahren. Mechthild Papoušek hat darauf hingewiesen, daß sich in dem auf das Kind gerichteten Sprechen (infant-directed speech) rhythmische, taktile, motorische und haptische Erfahrungen kinästhetisch verbinden. So erwirbt das Kind durch die Prosodie des Sprechens auch bestimmte rhythmische Verlaufsmuster und emotional besetzte Schemata.


Der Erwerb kognitiver Muster beruht auf der Ausbildung mentaler Repräsentationen, in denen die erworbenen und wiederholten Erfahrungen als immer wieder aktivierbare Programme gespeichert sind. Lernen wird hier daher als die Entwicklung mentaler Repräsentationen verstanden; musikalisches Lernen bezieht sich demnach auf die Bildung musikbezogener, genuin musikalischer Repräsentationen, die in der neuronalen Verschaltung miteinander verbundener Zell-Verbände bestehen.


In neurobiologischen Untersuchungen (Gruhn/Altenmüller 1996, Altenmüller/Gruhn 1997, Gruhn 1998) konnte gezeigt werden, daß musikalisches Lernen zu spezifischen Veränderungen corticaler Aktivierung führt, die nicht nur die Lokalisation und Lateralisation betreffen, sondern zu bestimmten, über den ganzen Cortex verteilten Aktivierungsmustern mit deutlich verminderter Aktivierungsstärke führen. Bemerkenswert ist dabei, daß die Veränderungen je nach der Art des Lernens verschieden ausfallen, also je nach dem, ob es zur Bildung musikalischer, verbaler oder symbolischer Repräsentationen kommt.1

1 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung der lernbiologischen Untersuchungen und ihrer Bedeutung für das Musiklernen in Gruhn 1998.

Die bisher vorliegenden Untersuchungen geben Anlaß zu der Vermutung, daß formale musikalische Repräsentationen kleinere Aktivierungsareale und weniger Aktivierungspotential benötigen und daher andere Verarbeitungsmöglichkeiten erschließen, die dann selbstorganisierte Prozesse der Informationsverarbeitung begünstigen. Auch wenn bisher noch nicht eine generelle Überlegenheit der Repräsentationsbildung auf formaler Ebene empirisch nachgewiesen werden konnte, ist doch von einer spezifischen Unterscheidbarkeit der Aktivierungsmuster bei figuraler und formaler Repräsentation auszugehen. Auf dieser prinzipiellen Unterscheidbarkeit beruht das hier vorgestellte Forschungsprojekt zur Beobachtung und Auswertung frühkindlicher Lernprozesse. Wenn Lernen den Aufbau mentaler Repräsentationen zum Ziel hat, dann müßte für Kinder in der sensiblen Phase größtmöglicher zerebraler Plastizität eine Lernumgebung geschaffen werden, die eben diesen Aufbau musikalischer Repräsentationen unterstützt, d. h. den musikverarbeitenden Arealen soviele musikalische Reize bietet, daß sich eine innere Repräsentation der elementaren musikalischen Grunderfahrungen

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