- 380 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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bzw. nachgewiesen? Nein. Dabei geht man von seltsamen Bildern aus, die man sich idealtypisch und in grenzenloser wissenschaftlicher Leichtfertigkeit von diesem Schüler macht: daß ihm nichts wichtiger sei, als die Dinge grundsätzlich in Frage zu stellen; daß ihm an den Regeln einer wissenschaftlichen Propädeutik allemal mehr gelegen sei als an der Frage, wie man Akne wirksam bekämpfe; daß ihn die Natur zugerichtet habe zu einem unablässig Forschenden, der dem Weltengeheimnis auf die Schliche kommen wolle; daß es ihm die höchste Lust bereite, wenn er sich in den funkensprühenden, widerspruchsvollen und selbstverständlich vom aufklärerischen Impetus befeuerten Diskurs einlassen dürfe, in einen herrschaftsfreien, versteht sich.


Wo steht das? Wie ist das belegt? Ich weiß, hier wird man die Piaget-Trumpfkarte aus dem Ärmel ziehen, und ich weiß auch: sie wird stechen. Freilich auf einer Altersstufe, von der ich hier nicht reden will. Reden will ich von etwa Fünfzehnjährigen der ausgehenden Mittel-, der eingehenden Oberstufe. Will reden von solchen Jugendlichen, die – wenn sie denn schon etwas in Frage stellen – sich selbst in Frage stellen. Von Jugendlichen, die in dieser Entwicklungsphase eher introvertiert verstummen denn sich outspoken geben. Von Heranwachsenden, welche sich wohl einem Tagebuch, einem selbstgeschriebenen Gedicht oder einem handgebastelten Rap anvertrauen, anstatt sich und ihre Meinungsbilder openminded zu Markte zu tragen. Von solchen, die nach Alltags-Mustern suchen statt nach Welt-Einsichten. Auch von jenen, die hilflos und verstört am Rande von Scheidungs-Schlachtfeldern zusehen müssen, daß nichts Bestand hat, nicht mal das scheinbar Allerselbstverständlichste. Keine Angst, ich setze nicht neue Schüler-Bilder gegen alte, nicht aktuelle gegen solche von früher. Scheidungsopfer gab es immer schon, und türkische Jugendliche haben heute die gleichen Probleme wie in den Fünfzigern die Kinder von Flüchtlingen aus Breslau. Und zumindest seit dem zweiten Punischen Krieg stehen Fünfzehnjährige vor dem Spiegel und kauen ratlos an der Frage herum, wer sie denn eigentlich wirklich seien und was um alles in der Welt aus ihnen werden könne. Ich möchte eigentlich nichts anderes als unter Verweis auf Bibel und Max Frisch einmahnen, sich überhaupt keine Bilder zu machen, stattdessen mit dem Möglichen zu rechnen. Peter, sechzehnjährig, mag sich anschicken, bei „Jugend forscht“ teilzunehmen, indessen Güher, ebenfalls sechzehn Jahre alt, den Spagat zwischen häuslicher Moslem-Isolation und schulhöfisch verordneter Coolness nicht hinkriegt. Mag sein, schrieb Hartmut von Hentig schon vor langer Zeit, daß anfangs der Siebziger die Jugendlichen mehr Aufklärung gebraucht hätten, Entzauberung und ein analytisches Instrumentarium, um sich (damals) gegen die Welt, wie sie war, zur Wehr zu setzen; mag auch sein, schreibt er weiter, daß sie nun anderes dringender nötig hätten: Verzauberung, Behütung und Schutz vor einer Welt, wie sie (heute) ist. Das klingt gut, weil


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