- 85 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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den Trichter und zog einen Putzlappen heraus. Die Kinder lachten. Er blies wieder in das Horn, doch auch jetzt gab es keinen Ton. Durch Mimik gab er zu verstehen, daß da noch etwas fehle. Aus der Jackentasche holte er das Mundstück, und dann erklang die Melodie mit vollem Ton und ohne Fehler.


Um Mißverständnisse zu vermeiden möchte ich deutlich sagen: Ich will mich hier nicht zum Stellenwert der Nikolauspädagogik des Amerikaners äußern, die man auch in manchen Kinderkonzerten in Deutschland findet. Es geht nicht um die Dramaturgie von Familienkonzerten, sondern um das Selbstverständnis des Orchestermusikers. In Mitteleuropa ist das Selbstverständnis und die Ausbildung von Musikern ausgerichtet auf das Musikwerk an sich. Die spieltechnischen und künstlerischen Fähigkeiten dienen der Aufführung von Musikwerken. Die Rahmenbedingungen von Konzerten kommen während des Studiums nicht ins Blickfeld. Der Orchestermusiker ist ein Spezialist hinter dem Notenpult mit abrufbaren Leistungen, ausgerichtet auf den Dirigenten als dem Hauptverantwortlichen für die Gestaltung des Musikwerkes. Dirigent und Musiker sind auf die Musik an sich ausgerichtet. Der Hörer als Adressat der Musik und seine jeweilige Lebenssituation ist bei beiden kaum in Sicht.


Dieses Selbstverständnis hat eine lange Tradition. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Ausbildung und die tägliche Praxis des Musikers darauf ausgerichtet, „Kunst“ zu verwirklichen. Die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Kultur und Kunst erst ermöglichen, sie bestimmen oder auch behindern, bleiben unberücksichtigt. Was ist gemeint, wenn wir sagen: Das Selbstverständnis des Musikers ist auf das autonome Musikwerk gerichtet? In sechs Aspekten möchte ich darlegen, was die Auffassung vom autonomen Kunstwerk meint und wie sie sich auswirkt.



Erster Aspekt: Das Kunstwerk wirkt durch sich selbst


Die Theorie des L’art pour l’art definiert im 19. Jahrhundert das Kunstwerk als eine Wirklichkeit, die ihre Existenzberechtigung in sich selbst und durch sich selbst hat. In dieser Tradition sagt zum Beispiel Gottfried Benn: „Ein Kunstwerk bleibt stets eigengesetzlich und drückt nichts als sich selber aus.“ Wer dieser Auffassung folgt, vernachlässigt den Anteil der Ausführenden bei der jeweils neuen Realisierung jedes Musik-Kunstwerkes und die Lebenssituation der jeweiligen Zuhörer. Er ist darüber hinaus blind für die Musik als soziale Tatsache.


Die Idee von der Autonomie des Kunstwerks fordert die idealisierte Sicht des Komponisten heraus. 1977 behauptete Hans Heinrich Eggebrecht auf dem Berliner Beethoven-Kongreß – wahrscheinlich in bewußter Zuspitzung einer These – Beethovens universale Kraft sei so stark, daß seine Musik zu allen Zeiten, an allen Orten der Erde und zu allen Menschen, gleichgültig welchen Alters, Geschlechts


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