- 84 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Hermann Große-Jäger


 

Anmerkungen zum Musikstudium in der Postmoderne

* Überarbeiteter Text eines Vortrags in der Hochschule für Musik Detmold am 6. Mai 1998


Die Aktualität unseres Themas möchte ich beleuchten durch Berichte aus der Konzert- und Probenpraxis zweier deutscher Orchester der Tarifklasse B. Die Ereignisse liegen etwa zwölf Jahre zurück. Sie könnten heute genau so geschehen. Familienkonzerte sollten eröffnet werden durch die Variationen über „Ein Jäger aus Kurpfalz“ von Paul Hindemith. Ich bat den Solo-Hornisten des einen Orchesters, die bekannte Volksliedmelodie zur Eröffnung des Konzerts allein vor dem Orchester zu spielen noch bevor der Dirigent erscheint. „Muß das sein?“ fragte er. „Ja, das muß sein.“ Ich kannte ihn als einen vorzüglichen und einfühlsamen Musiker, dessen Verläßlichkeit in Sinfoniekonzerten jeder Dirigent zu schätzen wußte. Ein hervorragender Musiker also, der Hemmungen hatte, mit mir vor das Publikum zu treten und allein eine Melodie zu spielen. Schließlich stimmte er zögernd zu. Ich versprach, ein Notenpult bereitzustellen. Er möge eine Tonart wählen, die dem Horn angemessen ist. Am Sonntagmorgen sagte er mir vor dem Konzert: „Bitte, verstehen Sie, ich schaffe es nicht. Ich möchte auf meinem Platz im Orchester bleiben.“ Selbstverständlich habe ich diese Bitte respektiert. „Würden Sie aber, wenn Sie die Melodie vortragen, aufstehen?“ Er gab keine Antwort. Nach der Begrüßung der Kinder und Erwachsenen schaute ich ihn an. Langsam stand er auf, schaute nicht in die Noten, blies die Melodie und füllte mit seinem Hornklang den Konzertsaal. Der Beifall zeigte, wie sehr Kinder und Erwachsene beeindruckt waren.


Dieselbe Situation im anderen Orchester. Hier war der Solo-Hornist ein Amerikaner. Er kannte die Melodie des deutschen Volksliedes nicht. Ich hatte sie ihm in verschiedenen Tonarten aufgeschrieben. Er sagte: „Ich möchte die Noten nicht. Singe mir das Lied vor!“ Ich habe ihm das Lied vorgesungen, zunächst mit Text, dann nur die Melodie. Danach blies er sie. Eine Stelle war nicht in Ordnung. Als ich ihm das sagte, erwiderte er: „Sing die ganze Melodie noch einmal!“ Jetzt blies er sie ohne Fehler und schön. „Willst du nicht die Noten mitnehmen, damit du eine Hilfe für das Gedächtnis hast?“ „Das ist nicht nötig.“ – Am nächsten Morgen trat er vor das Publikum und blies in das Horn. Es kam kein Ton. Er versuchte es noch einmal. Kein Ton. Er griff in


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