- 226 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Bomber-Angriff auf Köln. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wussten sich alle deutschen Großstädte in der Gefahr eines flächendeckenden, also auch gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Bombardements. Berlin, Hauptstadt des »Dritten Reiches« und Machtzentrale der NSDAP und ihrer verbrecherischen Kriegsführung, war ab Januar 1943 verstärkt von Luftangriffen betroffen.4
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Bomben (in Tonnen) auf Deutschland: 1940: 10.000 / 1942: 40.000 / 1943: 120.000 / 1944: 650.000. (Hermann Kinder / Werner Hilgemann, dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Bd. 2, München 1966, S. 200.)
Zuvor nahmen die flächendeckenden Tagesangriffe in Großverbänden derart zu, dass ein halbwegs geregeltes ziviles Leben nahezu unmöglich wurde. Dennoch versuchten die Menschen verzweifelt, so lange wie möglich ein »normales« Leben zu führen. In Berlin standen sich früh erkennender Pessimismus und Trotz-Optimismus in der Bevölkerung krass gegenüber, wie es unzählige autobiographische Berichte dokumentieren.5
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Zum Beispiel: »20. April 1943: Führers Geburtstag! Überall geflaggt, dabei ist die halbe Stadt geflüchtet.« Ursula von Kardoff, Berliner Aufzeichnungen 1942–1945, München 1976, S. 43.
Hitler führte ab 1941 Krieg auf dem Balkan, in Afrika und vor allem in Russland. Viele Familien bangten um ihre Angehörigen an der Front. Professionelles und freizeitorientiertes Kultur- und Musikleben in noch so bescheidenem Rahmen und so lange, wie es irgendwie möglich war, halfen die akute Bedrohung und die psychische Belastung vorübergehend etwas zu verdrängen. Die Mitglieder der Liebhaberorchester gingen zu den Proben, um für zwei Stunden mit Mozart und Schubert Wochenschau und Sondermeldungen zu vergessen. Das OBM erarbeitete als Orchestergemeinschaft unter Celibidache Musik, die als zeitloses kulturelles Erbe das seelische Rückgrat stärkte, während zeitgleich sowjetische Winteroffensive und deutsche Sommeroffensive in Russland auf ihr katastrophales Ende zusteuerten. Am 29. 11. 1942 dirigierte Celibidache das letzte Sinfoniekonzert, am 6. 12. den letzten Auftritt im Rahmen einer Festveranstaltung, am 31. 1. / 2. 2. 1943 kapitulierten die Überlebenden der deutschen Armee in Stalingrad.

Bezeichnend die Tagebucheintragung einer Berliner Journalistin am 25. 1. 1943:

Groteskes Leben: Abgründe der Trauer, und dann wieder stundenweise so, als gäbe es ein friedliches Dasein, in dem unsere Bequemlichkeit wichtig ist. Zugleich vollzieht sich in Stalingrad etwas Unbeschreibliches. Radio und Zeitung tun das ihre mit einem Trommelfeuer der Stalingrader Leiden. Eine Tragödie, die bereits wieder als Propaganda frisiert wird. Schließung aller Bars und Luxusläden, dazu Frauendienstverpflichtung als Gesetz. Sie sollen genauso eingezogen werden wie die Männer. Das wird die Stalingrader Strategie auch nicht wieder gutmachen. Es ist grotesk. In der Redaktion allgemeine Hysterie, weil dauernd andere Befehle aus dem Promi [Propagandaministerium] kommen. Alle blass, nervös, mager und verzweifelt.6

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Kardoff, a. a. O., S. 29.

Die Proben des OBM wurden eingestellt, der Laienmusikbereich war nicht mehr lebensfähig. Die Berliner Philharmoniker, Symbol deutscher Orchesterkultur, versuchten dagegen durchzuhalten. Ein Augenzeuge berichtet von der auch dort unvermeidlichen Kapitulation:


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