- 361 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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»kultiviert«. Darum ranken sich vielfältige modische (und auch ökonomische) Kontexte, die den Begriff »Tango« zur Prestigesuggestion und als Werbemittel nutzen34
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Vgl. etwa Simon Collier u. a., Tango! Mehr als nur ein Tanz, München 1995; vgl. auch Fred Ritzel, Synkopen-Tänze. Über Importe populärer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, in: (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, hg. von Kaspar Maase u. Wolfgang Kaschuba, Köln usw.: Böhlau 2001.
. In der Weimarer Zeit entwickelt sich dann das Tangotanzen zu einem Massenvergnügen, viele Tangos der Zeit bevorzugen melancholische Gefühlsregionen, aber es gibt auch interessante Beispiele für eine sarkastische bis komische Gegenwartssicht – obwohl die Mehrzahl der deutsche Tangos zum Liebeskitsch zu zählen ist35
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Vgl. dazu Fred Ritzel, »Schöne Welt, du gingst in Fransen!«: Auf der Suche nach dem authentischen deutschen Tango, in: (Hg.): Rock/Pop/Jazz im musikwissenschaftlichen Diskurs. Ausgewählte Beiträge zur Popularmusikforschung, hg. von Bernd Hoffmann, Winfried Pape u. Helmut Rösing, Hamburg: ASPM 1992, S.43–60. Der Text von Maria Haydee Malugano de Lorenz, Europäischer Tango versus tango argentino oder: ein Missverständnis das man tanzt, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 41 Jg. (1991), H. 2, S. 239, steckt leider voller Vorurteile und sachlicher Fehler.
. Aber es gibt auch bald Stimmen, die Tango etwa als »altmodisch« bezeichnen36
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Etwa in dem Film ABENTEUER IM ENGADIN (R: Max Obal, M: Paul Dessau, D 1932).
, als zur verkommenen Alltagskultur der »Systemzeit« gehörig. In der Nazizeit scheint die Melancholie, die Trauer, die Todesnähe sich verstärkt in den kollektiven Gefühlsraum des Tangos zu bewegen, einige der eindrucksvollsten Tangobeiträge deutscher Komponisten stammen aus jenen Jahren.

In der Nachkriegszeit verkommt das Genre, Albernheiten und Komik dominieren, Tango degeneriert zu etwas ziemlich Altmodischem. Der deutsche Film kann da einige einschlägige Sequenzen liefern, etwa den »Egon«-Tango (in HEIMWEH NACH DIR, BRD 1952) oder den »Kriminaltango« (in: KRIMINALTANGO, Osterreich 1960). Die humoristische Degeneration des Tangos lässt sich allerdings auch im internationalen Film feststellen, etwa in den Tangoszenen in ON THE TOWN (USA 1949), SOME LIKE IT HOT (USA 1959) oder an PAJAMA GAME (USA 1957) u.a.

Seit den 80er Jahren entwickelt sich der Tango, insbesondere ausgelöst durch das Auftreten des Tango nuevo, zu einem emotionalen Fluchtraum für intellektuelle bürgerliche Kreise. Konnotiert werden Leidenschaft, Sinnlichkeit, authentische Körpererfahrungen, schöne Menschen, dramatische Bekleidung und Attitüden. Merkwürdigerweise lässt sich diese Situation mit der ersten europäischen Tangophase vor dem ersten Weltkrieg vergleichen. Und als soziales Phänomen scheint der Tango in den 80er und 90er Jahren zu seinen europäischen Anfängen zurückzukehren: er bewegt nicht die breite Masse, sondern findet Anklang in spezifischen Zirkeln bei Intellektuellen, Bildungsbürgern, sozusagen im Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu37

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Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. u. New York 1992; vgl. zur Soziostruktur heutiger europäischer Tangomilieus Paula-Irene Villa, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Opladen 2000, S. 246.
. Die eher in elitären Kulturzirkeln der
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