- 91 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Ich kann den Studierenden nicht hinter die Stirn schauen. Doch ich habe den Eindruck, dass ihnen dieser Ansatz zwar einerseits gefällt, dass sie andererseits aber ein wenig irritiert sind, wenn ich ihn unter schulpraktischen Aspekten wörtlich nehme – so etwa, wenn ich vorschlage, das galant-gelehrte Finale des Streichquartetts KV 387 nicht nur zu analysieren, sondern im Sinne der »szenischen Interpretation« zu ,dramatisieren‘: Da kann man dann vier über den Partituren ergraute Quartettspieler sehen, die mit der Fugenexposition des Satzes beginnen, um erleben zu müssen, dass sie von einer vierköpfigen Musikantentruppe beiseite gedrängt werden, die mit einer frechen Tanzweise Paroli bietet. Und es bedarf weiterer Überlegung, wie denn diese beiden Gruppen in Durchführung und Reprise agieren sollen, wo sie sich ja auf ein gemeinsames Konzept einigen müssen, wenn die Verbindung galant-gelehrt zu einem eindrucksvollen Ende geführt und damit sinnbildlich ein Moment von Weltverständigung vorstellen soll, wie es Goethe vorschwebte, wenn ihm ein Quartettvortrag erschien, als ob »vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten«4
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Goethe an Zelter am 9. November 1829, hier zit. nach: Briefwechsel Goethe Zelter, ausgewählt und hg. von Werner Pfister, Zürich u. München 1987, S. 302. – Unlängst hat Nicole Schwindt-Gross kluge Einsichten in das rhetorische Moment in den Streichquartetten der Wiener Klassik geäußert: Drama und Diskurs. Zur Beziehung zwischen Satztechnik und motivischem Prozeß am Beispiel der durchbrochenen Arbeit in den Streichquartetten Mozarts und Haydns, Laaber 1989 (= Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft; Bd. 11).
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Warum werden solche Sichtweisen, wenn sie nicht gerade von Goethe stammen, seitens der universitären Musikwissenschaft als vorwissenschaftlich tendenziell belächelt? Woher kommt die Irritation der Zunft, wenn jemand anthropologisch gefärbte Bilder in den musikalischen Diskurs einführt? Schließlich gibt es da eine moderne Tradition, die von Schumann und Wagner über Nietzsche bis zu Adorno und Bloch führt!

Der Antworten sind viele, doch ich möchte hier nur eine nennen: Vielen Vertretern der universitären Disziplin, die sich »Musikwissenschaft« nennt, erschien und erscheint es notwendig, sich von den traditionellen Diskursen »Philosophie« und »Anthropologie« abzukoppeln, um einen Spezialdiskurs etablieren zu können, als dessen Königsweg die kompetente Analyse der musikalischen Struktur gilt. Da eine solche Sichtweise inzwischen in den Schulen und in der Lehrerbildung angekommen ist, erscheinen grundsätzliche Überlegungen sinnvoll. Und damit bin ich bei meinem Thema.

In seinem opus magnum »Grammars of Creation«, das kürzlich in deutscher Sprache herauskam5

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George Steiner, Grammatik der Schöpfung. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München u. Wien 2001.
, unterscheidet der Philosoph und Komparatist George Steiner zwischen »Schöpfung« und »Erfindung«: Das 20. Jahrhundert, überzeugt vom Ende der Kunst und von der Überlegenheit des technischen Denkens, stelle die Idee des Schöpferischen in Frage und ersetze sie durch das Prinzip der

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