- 115 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Vergeht die Zeit im Alter schneller?

Für das erwähnte Empfinden, mit zunehmendem Alter beschleunige sich der Ablauf der Zeit, existieren verschiedene Erklärungsansätze. Schon in den Abschnitten 6.1.1 und 6.1.3 wurde darauf verwiesen, dass sich Zeitschätzung an der Erlebnisdichte orientiert. Als ›subjektives Zeitparadox‹ wird die Tatsache bezeichnet, dass das Erleben von Langeweile ein Unterschätzen einer Dauer mit sich bringt, reichhaltige Stimulation dagegen eine Überschätzung eines vergangenen Zeitraumes bewirkt. Ein Erklärungsansatz für die Zeitwahrnehmung im Älterwerden knüpft hier an: Im hohen Alter sind die Lebensereignisse eventuell so vertraut, dass sie in der Wahrnehmung nicht mehr all zu sehr ins Gewicht fallen.

Der alte Mensch erfährt weniger Veränderungen, weil er ein ruhigeres Leben führt, vor allem aber, weil er während seiner Tätigkeit weniger Veränderungen bemerkt, denn sie sind ihm zur Gewohnheit geworden. (Fraisse 1985, S. 249).

Für Kinder sind beispielsweise Geburtstag oder Weihnachten überragende Höhepunkte, die lange im Voraus herbei gesehnt werden. Für Erwachsene kommt demselben Ereignis nicht annähernd so viel Bedeutung zu. Noch dazu ist das Leben von Kindern durch teilweise rasante Veränderungen gekennzeichnet. Allein die körperliche Gestalt ändert sich immer wieder, Lernprozesse in Bezug auf die Bewegungsgeschicklichkeit oder den Spracherwerbsprozess bewirken eine erhebliche Ereignisdichte. Man könnte sagen, dass das Leben von Kindern und Jugendlichen aus Veränderungen besteht. Im Vergleich mit der beschriebenen Diskontinuität erscheint das Erwachsenenleben eher gleichförmig und ereignisarm. Außerdem steht die Schätzung einer Dauer wohl im Verhältnis mit der Schätzung der Lebensdauer. Für eine Sechsjährige ist ein Jahr ein Sechstel ihres gesamten Lebens, für einen Sechzigjährigen nur ein Sechzigstel. Und Kinder kennen ihr Alter in der Regel sehr genau, während Erwachsene häufig erst nachdenken bzw. nachrechnen müssen.

Wenn schon für Erwachsene gilt, dass das Erleben von Zeit ausgesprochen subjektiv sein kann, gilt dies umso mehr für Kinder. Grund dafür sind sowohl körperliche als auch mentale Vorgänge. Beide sind eng miteinander verzahnt. Im Folgenden soll die kognitive Dimension des Zeitverständnisses ausführlicher dargestellt werden.

6.3.1.  Die Entwicklung des Zeitverstehens im Kindesalter

Zeit wird in der westlichen Kultur als quantitatives, metrisches Konzept definiert, das als Ordnungsinstrument hilft, Vorgänge objektiv zu messen und zu vergleichen. Die gedankliche Konstruktion von Zeit in diesem Sinne entwickelt sich als Teil der gesamten kognitiven Entwicklung. Eine wegweisende Untersuchung des Zeitverstehens legte Jean Piaget vor. Er versteht unter operativer Zeit »Zeit, die aus Beziehungen der Folge und Dauer besteht und sich auf Operationen – entsprechend den logischen Operationen – gründet« (Piaget 1955, S. 15).

Die Entwicklungsphasen nach Jean Piaget

Piaget führte zahlreiche Untersuchungen durch, in denen er Kinder in unterschiedlichen Zusammenhängen mit dem Thema Zeit konfrontierte. Er legte den kleinen


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