Der Zeit-Sinn
Die Konstruktion von Zeit wird erst möglich durch die Auswertung der zeitlichen
Prozesse vielfältiger Sinnesebenen (Modalitäten):
Der Zeitsinn beruht auf einer transmodalen zentralnervösen Analyse der
durch die verschiedenen Sinnesorgane vermittelten Sinnesdaten und der für
die Wahrnehmung notwendigen motorischen Akte. Mittels des Zeitsinnes
können wir die zeitliche Dauer von Ereignissen oder Intervallen, den
Rhythmus und die zeitliche Sequenz von Sinnesdaten wahrnehmen und in der
Erinnerung reproduzieren. (Grüsser 1998, S. 91, Kursivdruck im Original).
Dabei unterscheiden sich die Sinnessysteme deutlich danach, ob ihre Reizleitung schnell
oder eher langsam verläuft. Die zeitliche Auflösung einer Wahrnehmungsleistung ist
durch die Geschwindigkeit (Frequenz) ihrer Signalübertragung codiert. Reicht beim
Hören, Sehen oder Fühlen eine Distanz von 50 bis 250 ms um ein trennendes Intervall
zwischen zwei Reizen zu bemerken, benötigt der Geruchssinn einen Zwischenzeitraum
von einer Sekunde um zwei Düfte als getrennt wahrzunehmen. Grüsser nennt diese
Dauer das »kritische Zeitintervall« (ebd., S. 91ff.).
➢ | Jeder Sinneseindruck enthält auch zeitliche Komponenten. | |
➢ | Der Zeit-Sinn ist eine transmodale (Informationen aus unterschiedlichen
Sinnessystemen nutzende) Leistung. | |
Einflussfaktoren für die Reizverarbeitung: Dichte und Komplexität
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass neben der Modalität, also der Art der
Wahrnehmung, auch der Komplexitätsgrad Einfluss auf die Differenzierungsfähigkeit
nimmt: einfache Clicks können beispielsweise schneller aufeinander folgen und dennoch
als getrennt wahrgenommen werden als gesprochene Silben (ebd. S. 92f.). Ein weiteres
Beispiel gibt Grüsser für den visuellen Bereich: Wird ein dreieckförmiger Lichtreiz
viermal pro Sekunde auf eine Wand projiziert, sehen die Beobachtenden im Wechsel
eben dieses Dreieck und eine Dunkelphase. Bei einer Geschwindigkeit von 6 Reizen pro
Sekunde ist ein kontinuierliches Dreieck zu sehen, das in der Helligkeit schwankt. Hier ist
die so genannte »Gestaltfusionsfrequenz« (ebd., S. 96) überschritten. Die nicht
ausreichende Auflösung in der Verarbeitung der angebotenen visuellen Reize lässt zu,
dass das Auge sich täuschen lässt: statt der Wahrnehmung Dreieck/kein Dreieck kommt
es zu der Sichtweise helles Dreieck/dunkleres Dreieck. Bei der Verarbeitung dieser schnell
aufeinander folgenden abwechselnden Reize handelt es sich wieder um eine
vergleichsweise komplexe Aufgabe, die einen höheren Zeitaufwand in der Verarbeitung
verursacht:
Die Gestaltfusionsfrequenz
wird durch die langsamere zeitliche Signalverarbeitung in Neuronennetzen
der visuellen Hirnrinde begrenzt. Viele Neurone des visuellen Cortex haben
eine obere zeitliche Frequenzgrenze im Bereich von 4–6 Hz (ebd., S. 97f.).
Die Gestaltfusionsfrequenz sorgt auch dafür, dass die eigentlich diskontinuierlichen
Eindrücke des Sehsinns zum Eindruck fließender Bewegung verschmelzen. Denn visuelle
Eindrücke erfolgen durch ruckartige Augenbewegungen, die so genannten