- 130 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Der Zeit-Sinn

Die Konstruktion von Zeit wird erst möglich durch die Auswertung der zeitlichen Prozesse vielfältiger Sinnesebenen (Modalitäten):

Der Zeitsinn beruht auf einer transmodalen zentralnervösen Analyse der durch die verschiedenen Sinnesorgane vermittelten Sinnesdaten und der für die Wahrnehmung notwendigen motorischen Akte. Mittels des Zeitsinnes können wir die zeitliche Dauer von Ereignissen oder Intervallen, den Rhythmus und die zeitliche Sequenz von Sinnesdaten wahrnehmen und in der Erinnerung reproduzieren. (Grüsser 1998, S. 91, Kursivdruck im Original).

Dabei unterscheiden sich die Sinnessysteme deutlich danach, ob ihre Reizleitung schnell oder eher langsam verläuft. Die zeitliche Auflösung einer Wahrnehmungsleistung ist durch die Geschwindigkeit (Frequenz) ihrer Signalübertragung codiert. Reicht beim Hören, Sehen oder Fühlen eine Distanz von 50 bis 250 ms um ein trennendes Intervall zwischen zwei Reizen zu bemerken, benötigt der Geruchssinn einen Zwischenzeitraum von einer Sekunde um zwei Düfte als getrennt wahrzunehmen. Grüsser nennt diese Dauer das »kritische Zeitintervall« (ebd., S. 91ff.).

Jeder Sinneseindruck enthält auch zeitliche Komponenten.
Der Zeit-Sinn ist eine transmodale (Informationen aus unterschiedlichen Sinnessystemen nutzende) Leistung.

Einflussfaktoren für die Reizverarbeitung: Dichte und Komplexität

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass neben der Modalität, also der Art der Wahrnehmung, auch der Komplexitätsgrad Einfluss auf die Differenzierungsfähigkeit nimmt: einfache Clicks können beispielsweise schneller aufeinander folgen und dennoch als getrennt wahrgenommen werden als gesprochene Silben (ebd. S. 92f.). Ein weiteres Beispiel gibt Grüsser für den visuellen Bereich: Wird ein dreieckförmiger Lichtreiz viermal pro Sekunde auf eine Wand projiziert, sehen die Beobachtenden im Wechsel eben dieses Dreieck und eine Dunkelphase. Bei einer Geschwindigkeit von 6 Reizen pro Sekunde ist ein kontinuierliches Dreieck zu sehen, das in der Helligkeit schwankt. Hier ist die so genannte »Gestaltfusionsfrequenz« (ebd., S. 96) überschritten. Die nicht ausreichende Auflösung in der Verarbeitung der angebotenen visuellen Reize lässt zu, dass das Auge sich täuschen lässt: statt der Wahrnehmung Dreieck/kein Dreieck kommt es zu der Sichtweise helles Dreieck/dunkleres Dreieck. Bei der Verarbeitung dieser schnell aufeinander folgenden abwechselnden Reize handelt es sich wieder um eine vergleichsweise komplexe Aufgabe, die einen höheren Zeitaufwand in der Verarbeitung verursacht:

Die Gestaltfusionsfrequenz wird durch die langsamere zeitliche Signalverarbeitung in Neuronennetzen der visuellen Hirnrinde begrenzt. Viele Neurone des visuellen Cortex haben eine obere zeitliche Frequenzgrenze im Bereich von 4–6 Hz (ebd., S. 97f.).

Die Gestaltfusionsfrequenz sorgt auch dafür, dass die eigentlich diskontinuierlichen Eindrücke des Sehsinns zum Eindruck fließender Bewegung verschmelzen. Denn visuelle Eindrücke erfolgen durch ruckartige Augenbewegungen, die so genannten


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