- 165 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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lassen sich auf diese Grundstrukturen zurückführen. Zweitens sind die beschriebenen körperlichen Funktionen aber durch außerordentliche Flexibilität und komplizierteste Verwobenheit gekennzeichnet. Wenn im pädagogischen Umfeld immer wieder beschworen wird, Rhythmen ›über den Körper‹ oder ›über Bewegung‹ zu erarbeiten, ist dies einerseits richtig – denn die Physiologie hält tatsächlich rhythmisch geregelte Funktionen bereit. Andererseits sind viele Ratschläge oder Methoden all zu simplifizierend gedacht – denn menschliche Rhythmen spielen sich innerhalb besagter Hochkomplexsysteme ab. Diese Tatsache sollte den Unterrichtenden stets bewusst sein. Den komplexen Vorgängen selbst bei vermeintlich simplen Rhythmen muss grundsätzlich ein großer Respekt entgegengebracht werden.
Einerseits hält die Physiologie des Menschen musik-relevante Rhythmen bereit, andererseits kann die Beziehung zwischen Mensch und Musik als kompliziertes System angesehen werden, innerhalb dessen vielfältige Rhythmen auf komplexe, schwer vorhersagbare Weise miteinander in Wechselwirkung treten.

8.2.2.  Rhythmus und motorische Entwicklung

Rhythmisch-regelmäßig wiederholte Bewegungen gehören von Geburt an zur menschlichen Lebensäußerung, sie werden häufig und ausgesprochen lustvoll ausgeführt. Darüber hinaus kommt diesen so genannten Stereotypien sowohl psychische als auch physische Bedeutung zu (vgl. Abschnitt 4.4).

Motorische Stereotypien als musikpädagogisch nutzbare Schnittstelle

Aus musikpädagogischer Sicht findet sich hier eine natürliche Schnittstelle insofern, als rhythmisch geprägte Automatismen in jedem Menschen angelegt sind (oder zu Lebensbeginn zumindest waren), die der Funktion eines Grundschlages in der Musik ähneln. Gleichzeitig liegt in der Wiederholung gleicher Muster ein Übungseffekt hin zu differenzierteren Bewegungsmöglichkeiten. Stereotyp wiederholte Aktionen sind also nicht nur im musikalisch-rhythmischen Sinne bedeutsam, sondern beinhalten auch einen motorischen Trainingseffekt. Bei den im Kleinkindalter beobachteten unablässig wiederholten Bewegungen handelt es sich um Aktivitäten wie Schaukeln, Winken oder Treten – also um grobmotorische Bewegungen, die am Platz stattfinden. Diese Tatsache stellt den so häufig propagierten musikpädagogischen Standpunkt in Frage, nach dem rhythmisch unsichere Schülerinnen und Schüler davon profitierten, zu einem Grundschlag zu gehen. Fortbewegung folgt in der Reihenfolge der natürlichen Bewegungsentwicklung vergleichsweise spät, erste gezielte Aktionen finden zunächst am Platz statt. Gehen ist zwar durch eine regelmäßige Schrittfolge geprägt und somit eine zyklisch-rhythmische Bewegung. Die natürliche Entwicklung hält aber mit den so genannten motorischen Stereotypien Rhythmen bereit, die von Säuglingen schon lange bevor diese in die Phase der Lokomotion eintreten praktiziert werden.

Rhythmische Aktivität findet zuerst am Platz statt, erst später erfolgt (rhythmische) Fortbewegung.


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