- 20 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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nahegelegt haben mag, das Verhältnis der Hauptnoten genau zu bemessen und dafür einen notationstechnischen Ausdruck zu schaffen (Seidel 1998, Sp. 273).

Das erste System der temporalen Ordnung in der Musik, die Modaltheorie, beruht auf einem kleinen Repertoire von sechs Bewegungsmustern, den drei- oder sechszeitigen ›modi‹. Ähnlich wie die antiken Pedes bestehen sie aus Längen und Kürzen, wiederum gibt es einen Zusammenhang mit der Poesie: »Der ternäre Rhythmus und die Modi dürften tatsächlich mit der neuen rhythmischen lat.-roman. Lyrik des 12. Jh. zusammenhängen« (Michels 1981, S. 203).

Die Musik des Mittelalters orientiert die zeitliche Gestaltung einerseits am Text, andererseits an harmonischen Gesichtspunkten.

Die weitreichendste Neuerung des Mittelalters ist die Entwicklung des mehrstimmigen Musizierens.

Die Theorie, der die Zukunft gehören sollte, wird um die Mitte des 13. Jh. formuliert. Sie ist mit dem Namen des Franco von Köln verbunden. Er entwirft die Denkmodelle und bestimmt die Regeln eines Systems, das bis ins 16. Jh. hinein in Geltung sein wird (Seidel 1998, Sp. 273).

Die Gestalt der Note gibt von nun an Informationen über ihre Länge, im Gegensatz zur älteren Modalnotation, deren räumliche Anordnung für ihre zeitliche Gestalt sprach, findet in der Mensuralnotation ein Schritt hin zu mehr Abstraktion statt (Seidel 1976, S. 39f.; 1998, Sp. 274). Das zugrundeliegende Maß, von Franco ›tempus‹ genannt und als Brevis dargestellt, ist die Länge, die ein Mensch gerade eben mit einem Atem hervorbringen kann (Seidel 1976, S. 39). Dieses ›tempus‹ entspricht in seiner Unteilbarkeit dem antiken chronos protos. Drei dieser Einheiten fasst die mittelalterliche Musik in Analogie zur Trinität als Perfektion auf. Hervorzuheben ist die Verbindung von einer Konstanten, die mit dem Atem körpergebunden ist und einem Bezugssystem, das mit dem Hinweis auf die Trinität des christlichen Weltbildes ein geistiges ist. Die hieran gebundenen rhythmischen Figuren wiederum sind sinnlich fassbarer Ausdruck des Systems. »Die Division der das System eingrenzenden Einheit ist die zentrale operative Kategorie mensuralen Denkens und Handelns« (Seidel 1998, Sp. 274).

Die zeitliche Ordnung der frühen Mehrstimmigkeit verbindet körperliche Aspekte wie den Atem und die sinnliche Fassbarkeit der rhythmischen Figuren mit einer kognitiven, abstrahierten Komponente, der Dreizeitigkeit als Spiegelbild der Trinität.

Die Unterteilung der Zeit (parallel zu der mit Uhren gemessenen Zeit, vgl. Abschnitt 2.2) schreitet im Laufe der Geschichte fort, zu Beginn des 14. Jahrhunderts fügt Philippe de Vitry (1291–1361) dem franconischen System die Minima als Unterteilung der Semibrevis hinzu, bei der Namensgebung irrtümlich davon ausgehend, dass hiermit das Ende des Unterteilungsprozesses erreicht sei. Am Ende des Mittelalters gehören schließlich noch Semiminima, Fusa und Semifusa zum rhythmischen Repertoire – sicher beeinflusst durch den Zuwachs der Bedeutung der Instrumentalmusik, einem die Motorik betreffenden Aspekt –, die Duplex Longa, auch Maxima genannt, erweitert das Spektrum auf der anderen Seite. Die mittelalterliche Musik ist in moderner Notenschrift schwer fassbar, da sie nicht durch Akzente definiert ist.


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