- 203 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (202)Nächste Seite (204) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Das rhythmische Vermögen von Musikerinnen und Musikern, die in der westeuropäischen klassischen Musik verwurzelt sind, bezeichnet Giger als »etwas fantasielos, steif, verschwommen, gehemmt und unpräzise« (ebd., S. 10), die Ursache sieht er im Mangel an Improvisationserfahrung, den das überwiegende Spiel nach Noten – teilweise auch noch unter der Leitung eines Dirigenten – mit sich bringt.

Giger nennt Sprache, Tanz und die Trommel als ideale Mittel auf dem Weg zur rhythmischen Sicherheit. Den größten Teil seiner Veröffentlichung nehmen allerdings theoretische Gedanken und vor allem Rechenexempel ein. Auf engstem Raum stellt Giger Subdivisionen (Unterteilungen von Viertelnoten), Supradivisionen (Gruppierungen, die sich über mehr als eine Viertelnote erstrecken) und polymetrische Verhältnisse dar (ebd., S. 18f.). Andere Ausführungen betreffen die so genannte »Wertaufteilung« (ebd., S. 25ff.), damit ist die Frage gemeint, welcher Notenwert für beispielsweise eine Quintole über zwei Viertel oder eine Undezimole über den Wert einer ganzen Note gelten kann. Eine Vielzahl von Übungen schließt sich an diese Überlegungen an, bei denen es zunächst um das Errechnen geht, nicht um die Ausführung.

Für das Erfassen des Grundschlags (›Beat‹) sieht Giger eine Schrittbewegung vor; dass dieses Vorgehen nicht allein den Rhythmus thematisiert, sondern auch mentale und bewegungsbezogene Elemente, beschreibt der Autor selber: »Wer hinter dem Rhythmus hergeht oder ihm gar davoneilt, hat Schwierigkeiten, sich voll auf den Beat zu konzentrieren oder ist noch nicht in der Lage, seine Motorik zu koordinieren.« (ebd., S. 62). Ähnlich wie bei Flatischler kommen zu den Schrittbewegungen das Sprechen von Silben und Händeklatschen dazu. Instrumentalisten schlägt Giger vor, die notierten Beispiele des Buches auf ihrem Instrument zu spielen, ausgehend vom Üben der Sequenzen auf zunächst nur einem Ton (vgl. ebd., S. 71).

Fraglich ist, ob der Weg der ständigen Reproduktion notierter Sequenzen – egal ob über Körperperkussion oder mit Instrumenten – ein ansprechender, motivierender Weg zu rhythmisch-metrischer Fertigkeit sein kann. Auch wenn Giger verschiedene Herangehensweisen wie Dirigieren, Tanzen (womit eine Schrittbewegung auf der Stelle gemeint ist), Singen oder Sprechen vorschlägt, steht im Vordergrund seines Lehrwerks doch die Auseinandersetzung mit äußerst komplexen, notierten Rhythmusbeispielen. Eine weitere Frage bezieht sich auf den Schwierigkeitsgrad der vorgeschlagenen Übungen. So beinhaltet eine erste vorgeschlagene Übung (vgl. Giger 2001, S. 19) gleich das Gegeneinander von Zwei- und Dreizeitigkeit. Musikpädagogische Alltagserfahrung ist jedoch, dass es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene gibt, die schon Probleme damit haben viel schlichtere Rhythmen annähernd gelungen umzusetzen (vgl. ›Marion Saxer: das Fallbeispiel Robert‹ in Abschnitt 8.7.3). Ein großer Teil von Musikunterricht spielt sich in Dimensionen ab, die von Gigers Einstiegs-Übungen weit entfernt sind.

Der hohe intellektuelle Anspruch spiegelt sich auch in den von Giger so genannten ›Rhythmoglyphen‹. Die Zeichen Strich, Kreuz, Dreieck, Quadrat und Kreis stehen für rhythmische Muster mit ein bis fünf Einheiten und jeweils einer nachfolgenden Einheit Pause. Das Kreuz meint zwei Achtel mit Achtelpause, das Quadrat vier Achtel mit Achtelpause. Der Vorteil davon soll sein, dass auch Kinder ohne Kenntnis der Notenschrift mit den Zeichen sofort umgehen können:


Erste Seite (i) Vorherige Seite (202)Nächste Seite (204) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 203 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus