- 32 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Gegenteil, je größer die Zahl der gesammelten Meinungen, desto größer die Definitionsvielfalt – bis hin zur vollständigen Vertauschung. So kommt denn auch Helga de la Motte zu dem Ergebnis, dass eine grundlegende Definition von Rhythmus nicht möglich, dass dieser nicht einmal ein Begriff sei. Mit Bezug auf den Vergleich einer Sonate von Mozart oder Beethoven mit einem Kompositionsausschnitt von Messiaen formuliert sie:

Angesichts solcher gegensätzlicher Ausprägungsformen – das Beispiel ließe sich um viele vermehren – scheint es fast, als sei jeglicher Versuch, Rhythmus zu definieren, ein sinnloses Unterfangen. Diese kühne Behauptung sei durch folgende Überlegung gerechtfertigt: Der allgemein übliche Weg einer Definition besteht darin, daß der Begriffsinhalt durch das Aufzählen einer Reihe von Merkmalen festgelegt wird. Damit verbindet sich bei Begriffen von empirischen Gegenständen – als solcher ist auch Rhythmus anzusehen – automatisch eine Abstraktion, die eine Unterscheidung akzidentieller und essentieller Eigenschaften notwendig macht. Für Rhythmen ist ein entsprechendes Vorgehen aber unmöglich, da auf Grund der erwähnten vielfältigen, in ihrer Natur gegensätzlichen Ausprägungsformen keine essentiellen Merkmale festgesetzt werden können (de la Motte 1968, S. 17f.).

Doch auch diese scheinbare Kapitulation birgt einen Erkenntnisgewinn:

Das Thema Rhythmus ist zu komplex, zu fassettenreich, zu variabel in den Ausprägungen für eine allgemein gültige Definition.

Wiederum weist die Autorin an anderer Stelle darauf hin, dass der Rhythmus-Begriff umgangssprachlich klar umrissen ist und keinerlei Verständigungsschwierigkeiten provoziert (ebd., S. 97). Auch unter Musikerinnen und Musikern ist der Sprachgebrauch zum Thema wenigstens auf den ersten Blick unstrittig, erst der zweite Blick enthüllt die Widersprüche (vgl. Abschnitt 8.1). Rhythmus ist eine alltägliche, zutiefst menschliche Erfahrung. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass das Thema bisweilen einer simplifizierenden Sichtweise nicht entgeht und somit zum Gegenstand dessen wird, was de la Motte als »mystisch-spekulative […] Betrachtungen« bzw. »pseudophilosophische […] Überlegungen« (ebd., S. 15) bezeichnet.

Vor dem Hintergrund zahlreicher Epochen der Musik- und Kulturgeschichte bleibt festzuhalten, dass die Begriffe Rhythmus, Metrum und Takt nur verschiedene Blickwinkel auf das Phänomen musikalisch gestalteter Zeit darstellen. Wie die Durchsicht der vergangenen Jahrhunderte gezeigt hat, spielt sich dabei vieles innerhalb eines Spannungsfeldes ab. Die Gestaltung von Zeit kann dabei im Hinblick auf folgende Pole wahrgenommen werden (die Aufzählung könnte sicher ergänzt oder fortgesetzt werden):

Unbegrenzheit Begrenzheit
Freiheit Bindung
Aktivität Passivität
SpannungLösung

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