- 73 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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von Funktionen befassen, die für den Rhythmus in musikalischen Äußerungen als zuständig gelten.

Es bleibt festzuhalten, dass sprachlicher Ausdruck – Artikulation – über Bewegung realisiert wird. Charakteristisches Kennzeichen von Bewegung ist neben anderen Faktoren auch der Rhythmus. Zu beachten ist, dass die physiologischen Funktionen – wie in Kapitel 4 beschrieben – zunächst von den Faktoren Wachstum und Reifung bestimmt werden. Erst mit zwei bis drei Jahren gleicht der Artikulationsapparat dem der Erwachsenen. Dem gegenüber steht ein phonetischer Reichtum in den frühkindlichen Äußerungen, der sich erst allmählich in Richtung des Inventars der Muttersprache kanalisiert. Ständige Übung führt schließlich zu einem virtuosen Bewegungsfluss bis hin zu Automatismen. Kennzeichnend für das Sprechen ist eine ungeheure Flexibilität: Sprechtempo, Lautstärke, Klangfarbe oder Betonungen können – noch während einer Äußerung – den Erfordernissen angepasst werden. Dieses ermöglicht ein äußerst differenziertes System mit sensorischen und motorischen Anteilen.

5.2.2.  Gestik

In der Regel ist sprachlicher Ausdruck begleitet von mehr oder minder auffallenden Mitbewegungen des ganzen Körpers. Besonders ins Auge fallen dabei Arme und Hände, tatsächlich können aber von der Wendung des Kopfes bis hin zu Veränderungen der Fußstellung alle Körperteile in Bewegung geraten.

Das Phänomen der Selbst-Synchronizität

In der Mikroanalyse von Tonfilmen zeigt sich, dass sprachliche Äußerungen und Änderungen im Bewegungsverhalten zeitlich aufeinander abgestimmt geschehen, noch dazu folgen die unterschiedlichen in Bewegung gesetzten Körperteile einem koordinierten Muster. Dieses Phänomen wird als Selbst-Synchronizität bezeichnet:

Einsetzen der Bewegung, Innehalten und Richtungs- oder Tempowechsel in einer Muskelgruppe verlaufen synchron mit den entsprechenden Bewegungsabläufen in anderen Muskelgruppen. Das bedeutet nicht, daß beide Arme gleichzeitig dasselbe tun müßten oder Gesicht und Beine, um ein Beispiel zu nennen, eine Bewegung gemeinsam beginnen oder beendigen müßten. Denkbar ist durchaus, daß jeder Körperteil sein eigenes Bewegungsmuster verfolgt und sich unabhängig von den übrigen Körperteilen in Bewegung setzt und innehält, solange sie alle in dieselbe zeitliche Grundstruktur eingebunden bleiben, so daß Veränderungen in einem Teil nur in Synchronizität mit Veränderungen in anderen Teilen erfolgen. (Stern 1992, S. 124; zur zeitlichen Grundstruktur vgl. auch Shaffer 1982).

Daniel Stern vergleicht den sprechenden Menschen in diesem Zusammenhang mit einem Orchester: »der Körper dirigiert, und die Stimme läßt die Musik ertönen.« (ebd.). Ein deutlicher Hinweis auf die existenzielle Bedeutung der Selbst-Synchronizität ist die Tatsache, dass diese unter den Bedingungen von Aphasie, Autismus oder Schizophrenie reduziert ist oder ganz fehlt (vgl. Condon/Sander 1974, S. 458).


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