- 104 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
  Erste Seite (I) Vorherige Seite (103)Nächste Seite (105) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



schließen sich Inspiration und "nahezu wissenschaftliche Gründlichkeit" aus. Die rationale Durchdringung des Kompositionsprozesses allein bewirkt keine "Lebendigkeit des Werkes" (B. A. Zimmermann, "Vom Handwerk des Komponisten" 32).

     Die musikalische Gegenwart besteht nach Zimmermann aus einer Vielfalt von Bildungsgütern. Der gegenwärtige Mensch findet sich innerhalb verschiedener Zeit- und Erlebnisschichten wieder und ist doch "in diesem Netz von vielen verwirrenden und verwirrten Fäden - sagen wir es ruhig: geborgen". Zeitlichkeit gehört zur Wesensverfassung des menschlichen Daseins. Objektive Zeit und subjektive (erlebte) Zeit sind "Anschauungsformen des Subjekts": Äußerlich betrachtet sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Abfolge. In der geistigen Wirklichkeit existiert diese zeitliche Abfolge nicht. Vergangenheit und Zukunft berühren sich in der Gegenwart: "Die Zeit biegt sich zur Kugelgestalt zusammen" (B. A. Zimmermann, "Vom Handwerk des Komponisten" 35). Aus der Vorstellung von der Kugelgestalt der Zeit entwickelt Zimmermann ein pluralistisches Kompositionsverständnis, das zudem der Vielschichtigkeit der musikalischen Wirklichkeit kompositorisch Rechnung trägt.

     Besonderheit der Kompositionsweise Bernd Alois Zimmermanns ist die wechselseitige Durchdringung verschiedener Zeitschichten. Aus Tonreihen, die in der Regel alle Intervalle der chromatischen Halbtonleiter umfassen (Allintervallreihen) leitet Zimmermann ein Gefüge von Zeitintervallen ab, das die rhythmische Struktur und formale Gliederung seiner Kompositionen bestimmt. Tonhöhen und Tondauern beruhen auf übereinstimmenden, jedoch für jedes Werk neu zu bestimmenden Zahlenproportionen. Zitate und Zitatverbindungen können in die Werke einfließen. Sie bewirken, daß vergangene und zukünftige Musik beständig aufeinander verweisen. Die Vielfalt musikalischer Wirklichkeit erhebt sich über den individuellen Stilbegriff. Als Vertreter jener pluralistischen Kompositionsweise tritt ab Mitte der fünfziger Jahre John Cage und mit Beginn der sechziger Jahre Mauricio Kagel in Erscheinung. Anders als jene Komponisten möchte Zimmermann "innere Bilder" auf eine "exakt definierte Leinwand" projizieren, "eingebettet in ein genau kalkuliertes Proportionsgefüge der ... genannten Zeit- und Erlebnisschichten" (Zimmermann, "Vom Handwerk des Komponisten" 36).

      In der Schrift "Zukunft der Oper" (1965) führt Zimmermann die bereits bei Alban Berg verwirklichte Integration von Formen der sogenannten absoluten Musik in der Oper auf Richard Wagners Tristan und Isolde zurück. In der Verbindung mit jenen musikalischen Formen gelangt das dramatische Geschehen zu höchster Wirkung und tiefstem Ausdruck. Dies gilt, wenngleich auf die durch die Zwölftontechnik modifizierten musikalischen Formen bezogen, ebenso für Alban Bergs Oper Wozzeck wie


 INHALTSVERZEICHNIS


Erste Seite (I) Vorherige Seite (103)Nächste Seite (105) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 104 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst