- 108 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Studio der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln. Der Begriff tratto kann sowohl eine räumliche oder zeitliche Strecke, als auch eine Stelle eines Briefs, eines Buchs oder einer Abhandlung bezeichnen. In der Oper Die Soldaten verwendet Zimmermann tratto als Titel für Zwischenspiele verschiedener Art. In der elektronischen Komposition tratto bestimmt die übermäßige Quart alle Zeit- und Intervallverhältnisse. Der Aufbau von tratto erinnert in Zimmermanns Beschreibung an ein Labyrinth vom kretischen Urtyp:


... auf der einen Seite gehen die vielen, sich gegenseitig, wie schon beschrieben, aus den verschiedensten Raum- und Zeitrichtungen überlagernden, sich verschlingenden und wieder lösenden "Strecken" einem unerbittlich sich nähernden Zeit- und Endpunkt entgegen, dem endlichen und zeitlichen Schluß des Stückes, auf der anderen Seite wird diesem, nicht wiederholbaren und nicht umkehrbaren Ablauf ein beharrendes Moment entgegengesetzt, mit dem Ziel der Gewinnung einer gewissermaßen ständigen Gegenwart. Das bedeutet kompositionstechnisch bei dem vorliegenden Stück, daß es in beiden Zeitrichtungen zugleich komponiert wurde: von hinten nach vorne und umgekehrt. So werden alle Töne, Klänge, wie alle Aggregate überhaupt aus zwei spiegelbildlich sich ergänzenden Klängen abgeleitet, bzw. hingeführt, die zum Schluß des Werkes unwandelbar das Erscheinungsbild des Stückes bestimmen, eines Stückes, welches, wie erinnerlich aus einem einzigen Intervall abgeleitet ist.

(B. A. Zimmermann, "Gedanken über elektronische Musik" 58)


Zimmermanns Ode an Eleutheria in Form eines Totentanzes für Jazzquintett (1967) knüpft kompositorisch an seine Musik zum Hörspiel Die Befristeten von Elias Canetti an. Das Hörspiel handelt von Menschen der Zukunft, denen die ihnen zustehende Lebenszeit bekannt ist. Sie glauben, durch dieses Wissen dem Tod gegenüber eine bessere Disposition für ihre Lebensführung zu besitzen. Das Hörspiel besteht aus einer losen Folge von Szenen, deren Zusammenhang in dem Bewußtsein von Befristung besteht. In seinem Aufsatz "Gedanken über den Jazz" führt Zimmermann aus:


Befristung, Ablauf: das sind Fragen nach Werden und Vergehen von Zeit. Damit ist auch der Gedanke an das Symbol des menschlichen Werdens und Vergehens gegeben: den Totentanz.

      Canetti führt seit jeher einen entschiedenen, in seiner Absurdität und utopischen Überspitzung um so wirklicheren Kampf gegen den Tod, der in seiner Forderung nach der "Abschaffung des Todes" gipfelt. Überwindung des Todes, Freiheit vom Tode: das sind Oden, die zu allen Zeiten die Menschen gegen die Einrichtung des zeitlichen Todes angestimmt haben, Gesänge aus Tiefen, die den Meeresgrund kennen, die voll rätselhafter Zeitferne jenen Augen


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