- 107 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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In Pantomime und "pas d'action" des klassischen Balletts konkretisiert sich die Handlung, in den "pas" die absolute tänzerische Struktur. Als komplexes und pluralistisches Gebilde betrachtet Zimmermann auch das Ballett der Zukunft. Elemente des Bewegungstheaters, des Films, sowie Geräusche und Sprache treten zu einem Raum-Zeit-Gefüge zusammen, dessen Einheit durch Musik als "Form zeitlicher Ordnung" bestimmt wird. Die Möglichkeit dazu eröffnet eine pluralistische Kompositionsmethode, die alle Dimensionen des Bewegungstheaters verbindet. Musik ist für Zimmermann Bewegungsaufzeichnung im allgemeinsten Sinne. In der Verbindung von Musik und Bewegung sieht er "Möglichkeiten faszinierendster Art" (B. A. Zimmermann, "Über die Zukunft des Balletts" 48).

     Die Überwindung objektiver, meßbarer Zeit durch die Erlebniszeit aufgrund tänzerischer und musikalischer Gestaltungen aus gleichlautenden Proportionen von Intervall und Zeit überträgt Zimmermann 1967 auf Musik im Film. Die objektive Zeit steht als das Maß der Bewegung von Körpern im Raum im Gegensatz zur inneren Zeit "der reinen Bewegung, des Fließens und der Dauer". Die Erlebniszeit bestimmt das "Erlebnisbewußtsein" und die "Form aller Erlebnisse im Erlebnisstrom. Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit als Wesensverfassung des menschlichen Daseins, Unwiederholbarkeit der Entscheidungen, in die Zukunft geöffnete Freiheit sind seit Heidegger fortan bestimmend für den Zeitbegriff" (B. A. Zimmermann, "Einige Thesen über das Verhältnis von Film und Musik" 53).

     Film und Musik unterliegen der objektiven, meßbaren Zeit wie der erlebten, durch Proportionen der Zeitverhältnisse bestimmten, subjektiven Dauer. Zugunsten einer übergeordneten Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überwindet Zimmermann die äußere Synchronisation von Musik und Bewegung. Sichtbare und hörbare Wirklichkeit kommentieren und kontrapunktieren sich wechselseitig. Übergeordnete Kategorie ist die Bewegung. Musik und Film sind austauschbare, einander durchdringende Medien. Ihre äußere Unabhängigkeit voneinander und ihre ästhetische Autonomie sind Bedingungen einer tieferen Einheit im Erleben, die auf der gemeinsamen zeitlichen Organisation immanenter Zeitintervalle und Zeitproportionen beruht. In der umfassenden Zeitkomposition von Musik und Film sieht Zimmermann seine Vorstellung von der Kugelgestalt der Zeit verwirklicht.

     In der elektronischen Musik findet Zimmermann ein weiteres Anwendungsgebiet seiner Intervall- und Zeittheorie. Sinustöne, die allein elektronisch zu erzeugen sind, haben einen eigentümlich raum- und zeitöffnenden Charakter. Beim Hören von Sinustönen vergeht die Zeit anders. "Raumöffnung" und "Zeitstreckung" stehen in einem direkten ästhetischen Zusammenhang. Die Komposition tratto beruht auf Sinustönen. Das Werk entsteht zwischen Juli und Weihnachten 1966 im elektronischen


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