- 138 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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zwei Skalen. Die erste tendiert nach cis-Moll, die zweite zum verminderten Dreiklang über a (nicht, wie Ebbeke behauptet, nach a-Moll). Nimmt man die exponierten Töne 3 und 9 als "schwere Taktzeiten" (und dementsprechend 1 und 2 sowie 7 und 8 als "Auftakte"), so wird der Charakter der Reihe im Sinne einer Jazzskala hörbar:



Reihe der zweiten Szene des ersten Aktes der Oper Die Soldaten von B. A. Zimmermann nach Ebbeke, Sprachfindung 63)


Im Vergleich zum Particell weist die Partitur wichtige Änderungen auf. Die oben zitierten, die Erotik der Zigeunerin betreffenden Szenenanweisungen entfallen, ebenso die Zigeuner als Ausführende der Bühnenmusik. Das Tempo der Musik verringert sich (Halbe=112 statt 120). Die Anweisung "quasi Cool" kommt hinzu. Zimmermann fordert, "ausschließlich Jazzmusiker mit der Durchführung der Szenenmusik zu beauftragen" (Zimmermann, Die Soldaten 208). Schließlich tritt an die Stelle der melodieführenden Klarinette eine Trompete in B. Ebbeke deutet jene Änderungen zwischen der früheren und der endgültigen Fassung als Anzeichen einer Veränderung in Zimmermanns Verhältnis zum Jazz. Darüber hinaus betrachtet er Zimmermanns satztechnische Behandlung der Jazzmusik als Niederschlag einer Wende in der Geschichte des Jazz selbst, der am Beginn der sechziger Jahre "allgemeines Ansehen in einer intellektuellen Sphäre erlangt und sich auch von den früheren Konnotationen seiner Herkunft aus dem 'red-light-district' gelöst hat" (Ebbeke, Sprachfindung 65).

     Doch deuten jene Veränderungen der Szene und der Szenenmusik zugleich auf eine Änderung in Zimmermanns Auffassung der dramatischen Struktur der Oper. Der "Cooljazz" steht in einem distanzierteren Verhältnis zum Tanz der Andalusierin. Sie tanzt nun ohne eine dem Tanz adäquate musikalische Begleitung (etwa durch folkloristische südamerikanische Elemente). Am Ende des Tanzes bleibt sie allein und vergessen am Boden zurück. Die Jazzmusik spielt auf seiten der Offiziere und ihrer unterschwelligen, aus Angst sich nährenden Aggressivität. Die zurückbleibende Andalusierin gleicht verlassenen und bedrohten Frauengestalten verschiedener Kulturen und Epochen: der Rabie-Hainuwele und der Ariadne, der Lotte in Goethes Werther-Roman, der Zerlina bei Mozart, der "Frau" bei Marie Pappenheim und in Schönbergs Monodram Erwartung, der Marie bei Georg Büchner und in Bergs Oper Wozzeck, der Marie Wesener bei Jakob Michael Reinhold Lenz und Bernd Alois Zimmermann und vielen anderen. Sie alle stehen in engem Zusammenhang mit den Raum- und


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