Die Mutter sprach: "Die Glocke tönt,
Und so ist dir's befohlen,
Und hast du dich nicht hingewöhnt,
Sie kommt und wird dich holen."
Das Kind, es denkt: die Glocke hängt
Da droben auf dem Stuhle.
Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt,
Als lief' es aus der Schule.
Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr,
Die Mutter hat gefackelt.
Doch welch ein Schrecken! Hinterher
Die Glocke kommt gewackelt.
Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum;
Das arme Kind im Schrecken,
Es läuft, es kommt als wie im Traum;
Die Glocke wird es decken.
Doch nimmt es richtig seinen Husch,
Und mit gewandter Schnelle
Eilt es durch Anger, Feld und Busch
Zur Kirche, zur Kapelle.
Und jeden Sonn- und Feiertag
Gedenkt es an den Schaden,
Läßt durch den ersten Glockenschlag
Nicht in Person sich laden.
(Goethe, Gedichte und Epen 1, 289-290)
Wie zahlreiche Märchen und Kinderlieder handelt die Ballade "Die Wandelnde Glocke" vom Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Der Text spricht im besondern von der Angst des Knaben vor der Mutter, repräsentiert durch die Glocke. Dem Ungehorsamen mag die Mutter mit der Glocke drohen. Die unbewegte Glocke erscheint dem Knaben ungefährlich. Die klingende, bewegte Glocke aber dient ihm als Warnung. In den Anmerkungen zur Hamburger Ausgabe von Goethes Werken weist Erich Trunz auf die stoffliche Anregung zur Ballade hin. Sie ist nach seiner Überzeugung eine psychologische und keine moralische und beruht nach Riemers Mitteilungen über Goethe auf einem Scherz und Spaß, den Goethes Sohn und Riemer gemeinsam mit einem Knaben treiben, "der des Sonntags vor der Kirchzeit uns besuchend, bei beginnendem Geläute, besonders der durchschlagenden großen Glocke, sich einigermaßen zu fürchten schien. Nun machten wir ihm weis, die Glocke steige auch
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