- 38 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Wörner erläutert die "Momentform" als zentrifugale Formtendenz am Beispiel beider Werke. Er erinnert an den Ariadne-Mythos. Die "Hochheilige" hilft Theseus aus dem kretischen Labyrinth des Minothauros, nach einer Version der Sage mit dem Faden des Daidalos, nach einer anderen durch die Krone, die das undurchsichtige Labyrinth erleuchtet. Ariadne folgt Theseus nach Athen. Theseus verläßt die Schlafende, als unerwartet seine Gefährten bei einer Rast auf der Insel Dia erscheinen. Ihr Signal gibt ihm Anlaß zur Flucht, während Ariadne im Traume das Geschehen ahnt. Der Zusammenhang des Angsttraumes mit der Orientierungs- und Entscheidungsfigur des Labyrinths zeichnet sich ab. Wörner zitiert die Stimme der unsichtbaren Oreade. Sie spricht zur erwachten Ariadne, Theseus fürchte das Licht (Wörner, "Schönbergs Erwartung" 99). Ariadne steigt auf einen Felsen. Ein Sturm reißt sie in die Tiefe. Es ist der Sturm ihrer Leidenschaften. Das Labyrinth verkörpert die Angst vor dem Ungewissen und Unsicheren, vor dem Erlebnis des Jetzt mit Ausgang in eine bedrohliche Zukunft, letztendlich die Angst vor dem Tod. Das Durchschreiten des Labyrinths bedeutet, widersprüchliche seelische Impulse zu verbinden.

     Die Werke Bendas und Schönbergs gleichen als Ausprägungen des "Antiklassischen" (Wörner) dem gefährlichen Weg ins Zentrum des Labyrinths. Beide verzichten auf eine weitläufige äußere Handlung. Sie beschränken sich auf die psychologische Ausformung eines Stimmungswechsels zwischen den Extremen. Eine Frau sucht im nächtlichen Wald den Geliebten, den sie bei einer anderen vermutet. Sie findet ihn erschlagen in der Nähe des Hauses der Fremden. Ihre Gedanken und Empfindungen erfüllen den nächtlichen Wald. Die Frage, ob es sich bei der Handlung, wie Garcia Laborda annimmt, um einen Angsttraum handelt, bleibt offen (Laborda, Studien zu Schönbergs Monodram 41). Die Frau in Schönbergs Erwartung ist "die Ariadne der Jahre um 1910" (Wörner, "Schönbergs Erwartung" 105).

     Bendas Ariadne auf Naxos und Schönbergs Erwartung sind Beispiele einer unbeabsichtigten Gegenwärtigkeit des Vergangenen. "Offensichtlich gibt es die Möglichkeit, daß in einzelnen Epochen Gemeinsamkeiten deutlich werden, ohne daß direkte Beziehungen zueinander bestehen" (Wörner, "Schönbergs Erwartung" 97). Spezifische musikalische Gebärden kehren wieder. Die "zentrifugale Formtendenz" als Medium des hochgesteigerten individuellen seelischen Charakters begründet "Traditionszusammenhänge unterschwelliger, unbewußter Art" (Wörner, "Schönbergs Erwartung" 104). Musik des Augenblicks entsteht. In ihr hat das Labyrinthische seine stärkste Ausprägung erfahren.


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