- 49 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
  Erste Seite (I) Vorherige Seite (48)Nächste Seite (50) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



der Mann den Becher in der Hand, ohne daß sich einer von beiden vom Platz gerührt, ohne daß der Mann sich nach ihr umgesehen hat. (NB Der Mann darf nie zu ihr hinsehen; er blickt immer nach vorn; sie steht immer hinter ihm). Der Mann hält den Becher in der rechten Hand, den Arm vorstreckend.

(Schönberg, Die glückliche Hand 11-12)


Violettes Licht von oben erinnert an Mondlicht. Und wie Phoibe, die Göttin des abnehmenden Mondes, ergreift auch das Weib in Schönbergs Drama nach der symbolischen Vereinigung mit dem Mann der Glücklichen Hand die erste sich bietende Gelegenheit zur Untreue. Ein vornehm dunkelgrau gekleideter Herr mit schöner Figur erscheint, streckt ihr ein wenig die Hand entgegen und sie geht lächelnd auf ihn zu, "ruhig, wie auf einen alten Bekannten" (Schönberg, Die glückliche Hand 15-16). Er nimmt sie in seine Arme, doch kehrt sie bald darauf reumütig zum Mann zurück. Das Ende des dritten Bildes zeigt den neuerlichen und weitaus gröberen Betrug des Mannes mit demselben "alten Bekannten". In der Tat wiederholt sich das Werben des Mannes, die Hingabe des Weibes und ihre nachfolgende Untreue mit dem Herrn in periodischer, gleichsam naturgesetzmäßig erscheinender Abfolge.

     Drewermann hebt in seiner Deutung des Grimmschen Märchens hervor, daß auch der (Sonnen-) Gemahl nicht ohne trügerische Doppelnatur ist:


Denn wenn nach der Neumondzeit in den ersten Abendstunden die Sichel des zunehmenden Mondes im Westen hervortritt, um immer größer und schöner auf länger werdender Bahn dem Sonnenaufgang entgegenzueilen, so scheint es, als strebe die Sonne nunmehr nach der Enttäuschung der Brautnacht sogleich wieder dieser neuen, schöngewandeten Frau nach und "vergesse" seiner vormals Geliebten in ihrer armseligen Gestalt.

(Drewermann, "Der Trommler" 113-114)


Ein Spannungsverhältnis zwischen dem mythologischen Urbild und seiner bewußt-unbewußten musikdramatischen Ausformung ist in der Verschiebung der Untreue auf die Seite des Weibes zu sehen. Indessen gestaltet Schönberg den Mann, wie wir eingangs am Beispiel des Chores der sechs Männer und sechs Frauen sehen, keineswegs unkritisch. Anteile der Charakterstruktur und Persönlichkeit des Mannes finden wir in der undurchsichtigen Gestalt seines Gegenspielers, des Herrn im dunkelgrauen Anzug wieder. Das dritte Bild zeigt überraschende Gemeinsamkeiten im Verhalten beider. Wie der Mann den Arbeitern in der Grotte, die ihn bedrohen, mit Leichtigkeit das Diadem zuwirft, welches er durch einen Schlag auf einen Amboß fertigt, so wirft der Herr dem Weib später in Anwesenheit des Mannes das ihr fehlende Kleidungsstück zu. Ein Drang zu verletzender Oberflächlichkeit wird erkennbar. Am Ende des


 INHALTSVERZEICHNIS


Erste Seite (I) Vorherige Seite (48)Nächste Seite (50) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 49 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst