- 78 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Heinrich Adam Buff, und auf den 23jährigen Dr. juris Johann Wolfgang Goethe zurück. Die in Werthers Brief vom 16. Juni 1771 geschilderten Begebenheiten auf einem Ball spiegeln die Begegnung Goethes mit Charlotte Buff vom 9. Juni 1772 auf dem Weg zum Tanz in einem Ort namens Volpertshausen (Trunz, "Die Leiden des jungen Werther" 517).

     Betrachten wir die Schilderung der ersten Begegnung Lottes und Werthers als ein unter zeitgeschichtlichem Einfluß entstehendes literarisches Dokument, so werden in der Beschreibung des englischen Contretanzes Spuren individualisierender, zentrifugaler Formtendenzen der ursprünglich höfischen Tanzform sichtbar. Der Contretanz nimmt während der siebziger Jahre Elemente des Walzers auf. Erich Trunz weist in den Anmerkungen zur Hamburger Ausgabe von Goethes Werken auf die bürgerliche Auflösung der ursprünglich höfischen Tanzform hin ("Die Leiden des jungen Werther" 573).

     Betrachten wir vor dem geschilderten thematischen Hintergrund die erste Begegnung Lottes und Werthers in Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther:


Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze. - "Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist"sagte Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut."  Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete - wie die

lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie

ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit

denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz,

ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten,

und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik

kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saale herunter entgegenschallte.

 Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.- wer behält alle die Namen-, die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich führte das meinige hinauf.

      Wir schlangen uns in Menuetts umeinander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir's war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblick gewiß schwindet alles andere vor ihr.

      Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mir den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze. - "Es ist hier so Mode," fuhr sie fort, "daß jedes


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